Die Zarin der Nacht
Genügt das nicht?
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Besborodko runzelt die Stirn. Seine Hand streicht über seinen Bart. Zweifelt er daran, dass ihr Enkel ihr gehorchen wird? Dass er seinem Gefühl folgen wird?
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Holen Sie Alexander her. Sofort. Sagen Sie es ihm. Alles.
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Sie stellt sich vor, wie ihr Enkel leidet bei dem Gedanken daran, was ihr zugestoÃen ist. Aber jetzt ist nicht die Zeit, sich seinem Schmerz hinzugeben, jetzt muss gehandelt werden. Manchmal muss man, ohne lange zu überlegen, tun, was nötig ist.
Es ist wie beim Kampf gegen die Hydra. Wenn man ihr einen Kopf abschlägt, muss man sofort den Stumpf mit Feuer ausbrennen, sonst wachsen zwei neue Köpfe nach. Einer ihrer Köpfe aber ist unsterblich: Diesen muss man begraben und einen schweren Felsen darüber wälzen, damit er nie wieder Unheil anrichten kann.
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Das habe ich getan, denkt sie.
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10.10 Uhr
»Hat Ihre Majestät etwas gesagt? Hat sie nach mir verlangt? Hat sie die Augen geöffnet?«
Das Gesicht des jungen Mannes, der sich über sie beugt, ist wunderbar fein geschnitten. Die gewölbte Stirn ist alabasterweiÃ. Unter schwarzen Brauen mandelförmig geschnittene Augen.
Er fasst ihre Hände, vollkommen verängstigt wie ein Kind im Dunkeln.
»Katinka«, flüstert er ihr schluchzend ins Ohr, »bitte, verzeih mir.«
Was soll ich dir verzeihen?
Ihr Körper erinnert sich an ihn. Ihre Brüste, ihre Lenden haben seine träumerisch langsamen, trägen Küsse nicht verges
sen. Seine seidige Haut, seine warme Zunge und die Schauder der Lust, die sie hervorlockte.
Das ist lange her.
Er heiÃt Platon.
Ich kenne dich, denkt sie. Ich kenne deinen Namen.
Furcht sickert aus Platons schwarzen Augen und durch seine weiÃe Haut. Seine Hände umklammern die ihren. Seine Finger sind kalt. Hart. Knochig , denkt sie. Isst er nicht genug?
In seiner Höhle schläft Endymion, der schöne Geliebte der Mondgöttin Selene. Er muss immer schlafen, damit er nicht altert.
Einen Moment lang sieht sie dicht gedrängt um sich herum Gesichter. Sie kennt keines von ihnen.
Und sie hört Geflüster. Ein wahrer GieÃbach von wispernden Stimmen.
Sie ist alt, und du bist jung, tuscheln sie. Sie ist hässlich, und du bist schön. Sie ist mächtig, und du bist ein Niemand. Ein Spielzeug, dazu da, sie zu erheitern und zu zerstreuen. Jetzt, da sie uns verlässt, sind auch deine Tage gezählt. Und du wirst teuer für alles bezahlen müssen, was wir in deiner Gegenwart erduldet haben, für alle Zurücksetzungen, für jedes schmeichlerische Lob, das uns abgenötigt worden ist. Wir haben uns selbst verraten und uns gedemütigt, und du wirst dafür büÃen.
»Was wird aus mir werden, Katinka?«, flüstert ihr geliebter Endymion. »Wenn du nicht mehr bist, wird Paul mich umbringen lassen.«
Hände streichen ihre Frisur glatt, wischen ihre Lippen ab. Hände zerren Platon weg von ihrem Bett. Seine weinerlichen Proteste schlagen über ihr zusammen, sickern ein in ihren schmerzenden Körper. Durch ihre Adern gelangen sie in ihr Herz, in ihre Leber, in ihre Milz.
Ihre Muskeln straffen sich.
Sie spürt ein leichtes Kribbeln in ihren Gliedern. Ihr Herz pocht. Einen Augenblick ist ihr, als könnte sie einfach von ih
rem Bett aufstehen. Sie sieht einen Baum mit einem geknickten Zweig. Aus der Bruchstelle sickert Saft. Sie streckt die Hand nach dem Zweig aus. Pressen, Hoheit, hört sie eine Frauenstimme sagen. Noch einmal, aber jetzt langsam. Hören Sie mir zu. Sie müssen tun, was ich Ihnen sage. Jetzt!
»Ihre Majestät versucht etwas zu sagen. Sehen Sie doch! Ihre Lippen bewegen sich. Sie sieht mich an.«
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10.15 Uhr
Das Licht, das durchs Fenster hereindringt, zeigt an, dass es Vormittag sein muss. Der Raum wirkt nur deswegen sonderbar, weil sie auf dem FuÃboden liegt. Das groÃe Himmelbett steht direkt hinter ihr. Sie befindet sich in Sankt Petersburg im Winterpalast.
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Um diese Zeit sollte ich eigentlich arbeiten. Wieso sitze ich nicht an meinem Schreibtisch?
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Irgendetwas Schlimmes ist passiert. Ein Mordanschlag? Hat jemand es wirklich gewagt? Wer? Dieser französische Revolutionär, vor dem Besborodko sie immer gewarnt hat? Irgendein erbitterter Pole, der sein Vaterland rächen wollte? Oder ein Türke, ein Kosak?
Der Erfolg bringt Feinde hervor und lockt allenfalls falsche Freunde an.
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Wo die Macht ist,
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