Die Zauberlehrlinge
genug. Wenn tatsächlich etwas hinter seinen Ängsten steckte, dann war es stets zu flink für ihn.
»Brief für Sie«, verkündete der misanthropische Manager des Kong Knud, als Harry am späten Donnerstagnachmittag in die Hotelhalle schlenderte. Zusammen mit dem Zimmerschlüssel schob er einen zerknitterten braunen Umschlag über die Theke. Harry ergriff den Brief und riss ihn auf, während er zum Lift ging. Er enthielt einen Stadtplan von Kopenhagen. Harry wandte sich nach dem Manager um. »Haben Sie gesehen, wer den Brief gebracht hat?«
»Nein. Es war niemand an der Rezeption, als er kam.« Also Hammelgaard. Er musste es sein.
Harry faltete den Stadtplan auseinander. Kongens Nytorv, der Platz am östlichen Ende des Straget, war mit roter Tinte eingekreist. Und am Rand stand groß und unübersehbar das Wort: Mitternacht.
17. Kapitel
Es war kalt, und Regen lag in der Luft. Aus einem Dock auf einer Seite des Platzes erklang das kalte Klirren von gegen Masten schlagender Takelage. Der Strom der Opernbesucher aus dem Königlichen Theater war versiegt, und die letzten Gäste hatten das zur Straße gelegene Restaurant des Hotel d'Angleterre verlassen. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen. Harry fühlte sich exponiert und viel auffälliger, als er in Wirklichkeit war, als er um das dunkle Zentrum des Kongens Nytorv herumschlenderte. Er zündete sich eine weitere Zigarette an - eine von seinen kostbaren Karelia Sertika - und hielt das Streichholz dicht an seine Uhr, um die Zeit abzulesen. Mitternacht vorbei, aber keine Spur von Torben Hammelgaard.
Harry zog an der Zigarette und stieß mit einem Seufzer den Rauch aus. Trotz eines längeren Aufenthalts in einer Bar auf halber Höhe des Stroget fühlte er sich vollkommen nüchtern. Um diese Nachtstunde war das ein besonders unangenehmes Gefühl, nicht zuletzt deshalb, weil er so wenig Erfahrung damit hatte.
Plötzlich fuhr er herum, überzeugt, dass dicht hinter ihm jemand war. Aber nein, seine Nerven spielten ihm wieder einen Streich. Feuchte Pflastersteine und schimmernde Trambahnschienen in Richtung Hafen, sonst nichts. Ein später Bus fuhr schnell und laut an ihm vorbei. Wieder drehte er sich um. Und war nicht mehr allein.
Ein kleiner, breitschultriger Mann stand einige Schritte von ihm entfernt, die Hände tief in die Taschen einer dicken, wasserundurchlässigen Jacke vergraben, das Gesicht teilweise unter einer pelzbesetzten Mütze verborgen. Aber die Brille mit dem Stahlgestell und der gestutzte Bart verrieten seine Identität. Langsam trat er in helleres Licht und nickte grüßend.
»Hallo, Harry.« Die Stimme war leise und tief, eine seltsame Mischung aus Dänisch und Amerikanisch. Doch es war weniger der Akzent als vielmehr die vertrauliche Anrede, die Harry verwirrte.
»Torben Hammelgaard?«
»Natürlich. Erkennen Sie mich nicht?«
»Doch, ja. Von einem Foto in einem Ihrer Bücher. Aber wie haben...«
»Ob Sie mich nicht von unserem letzten Zusammentreffen erkennen, meine ich.«
»Wir haben uns meines Wissens nie getroffen.«
»Sie müssen sich doch erinnern!«
»Nein. Unsere Wege haben sich nie gekreuzt. Warum sollten sie?«
»Warum? Ich hätte gedacht, den Grund müssten Sie recht gut kennen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Rhodos, Harry, August 88. Die Bar in Lindos, in der Sie gearbeitet haben. Wie hieß sie noch?«
»Die Taverna Silenou?«
»Ja, richtig.«
»Sie waren dort?«
»Ja, ich war dort. Und nicht allein.«
Eine unheilvolle Ahnung überkam Harry. Eine Vermutung keimte in ihm auf, die ihm Übelkeit verursachte. »Wer war bei Ihnen?«
»Zwei Freunde. Ein Mädchen namens Hanne, das zu der Zeit scharf auf mich war, und noch jemand.«
»August 88 sagten Sie?«
»Ja, das habe ich gesagt.«
»Und diese... Hanne... war Dänin?«
»Ja. Damals war ich noch am Niels-Bohr-Institut. Die meisten meiner Freunde waren Dänen. Aber nicht alle.«
Manche Dinge vergingen nie, verblassten nie. Sie wuchsen einfach und wurden schlimmer, schwollen in der Erinnerung an wie ein Tumor. Ein betrunkenes Missverständnis an einem heißen Tag in Lindos hätte weiter keine Folgen haben dürfen. Aber drei Monate später war es bei den polizeilichen Ermittlungen über das Verschwinden von Heather Mallender gegen ihn ausgelegt worden. Und jetzt, mehr als sechs Jahre später, holte es ihn wieder ein.
»Es war nicht Ihr Fehler, Harry. Hanne versuchte, mich eifersüchtig zu machen, indem sie mit Ihnen flirtete. Vermutlich hat sie Sie für harmlos
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