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Die Zauberquelle

Titel: Die Zauberquelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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verbreitete, daß die kleine Witwe aus London, die mit den hübschen Schuhen und den städtischen Manieren, die den zweiten Sohn geheiratet hatte, nicht mehr wäre, da hob ein Jammern und Wehklagen unter den Bauersfrauen an, denn sie hatte viel Gutes an ihnen getan. Alsdann verbreitete sich die Kunde, daß nicht sie tot war, sondern daß sich Sir Hugos Frau das Leben genommen hatte und daß die Totengräber bereits ihr Grab vor der Friedhofsmauer aushoben. Und da entsetzten sich die Dorfbewohner. Niemand konnte sich etwas Schlimmeres und Furchtbareres als ein Begräbnis in ungeweihter Erde vorstellen.
    Als das dunkelblaue Zwielicht allmählich verblaßte, wuchs die Schar, die sich unter dem Söllerfenster drängte, zur Menschenmenge an, die im Licht von einem halben Dutzend Fackeln verstört durcheinanderlief.
    »Was wollen die da draußen?« fragte der Lord von Brokesford, der im Söller auf einem Fensterplatz saß. Dort in der Nische war es dunkel, nur ein paar kalte Sterne spendeten Licht. Der alte Lord hielt sich den Kopf mit beiden Händen. So saß er schon seit Stunden, ohne sich zu rühren. In dem großen Bett lagen Margaret und der Junge, und zu ihren Füßen lag ihr alter, blutender und geschundener Hund. Um ihr Bett herum stand das ganze Dutzend Kerzen, das die Burg zu bieten hatte, und daneben kniete sein Sohn Gilbert, ins Gebet vertieft.
    »Sie beten zur Jungfrau Maria«, sagte der Knecht nach einem Blick aus dem Fenster. »Da unten dürfte sich jede Seele im Kirchspiel eingefunden haben.«
    »Alles – alles zunichte. Meine Pläne. Wie soll es weitergehen? Wofür lebt ein Mann? Ruhm und Ehre – meinen Familiennamen… Und nun das da. Ist es meine Schuld?« Ein Hauch von Einsicht überkam ihn. Irgendwie, irgendwie mochte alles zusammenhängen, hatte vor sehr langer Zeit angefangen und war durch das eigene erfrorene Herz, durch seine Lieblosigkeit ausgelöst worden. Doch als er den Gedanken festnageln wollte, verflüchtigte er sich und war für immer fort. Er versuchte, sich damit zu trösten, wie schlecht Lady de Vilers gewesen war und wie er mit eherner Hand für ausgleichende Gerechtigkeit gesorgt hatte, doch irgendwie gelang ihm auch das nicht. Etwas Schweres drückte ihm das Herz ab, etwas, was schmerzte. Es durchlief ihn in Wellen, und er kam sich dabei vor, als würde er durch die Wäschemangel gedreht. Er hatte sein altes verhärtetes Herz an das kleine Wesen gehängt, das da neben seiner Mutter im Bett lag und kaum noch atmete. Und nun war das Herz gebrochen. Draußen konnte er hören, wie die Bauern im Sternenschein ein Lied anstimmten:

»Maria, wir dich gruessen, o Maria hilf,
und falen dir zu fuessen, o Maria hilf.«

     Alles vergebens, dachte der Herr von Brokesford. Wie viele Male hatten die höchsten Priester des Landes Gottes Segen, Jesu Segen, der Jungfrau Segen auf das gewaltige Vorhaben in Frankreich herabgefleht, und was war dabei herausgekommen?

»Vol Zuversicht wir biten, o Maria hilf,
durch daz, waz du geliten, o Maria hilf.
In krankheyt unde beschwerden, o Maria hilf,
heyl uns unde hilf uns werden, o Maria hilf.«

     Wann hören sie endlich mit dem nutzlosen Gesinge auf, dachte er. Es ist alles vorbei. Wissen sie das denn nicht? Zuversicht?
    Wo ist meine Zuversicht geblieben? Wer hat so viel verloren wie ich?

»Sî an die not der armen, o Maria hilf,
wek mitleyd unde erbarmen, o Maria hilf – «

     Erbarmen, wo bleibt das Erbarmen, dachte er und blickte hinaus in die Dunkelheit. Am Himmel hing eine schmale Mondsichel, die kaum Licht spendete. Und mit dem aufgehenden Mond kam dem Lord ein mondsichelschmaler Gedanke und nahm in den Tiefen seiner Seele Gestalt an. Die Himmelskönigin hat auch einen Sohn gehabt, dachte er. Sie hat ihr Herz an IHN gehängt. Und hat IHN verloren. SIE muß doch wissen, daß mir das Herz im Leibe bricht.

»Im leben unde im sterben, o Maria hilf
hilf uns den sîg erwerben, o Maria hilf«

    O Gott, fühlt sich das so an? Die ewige Verdammnis? Besteht die Hölle aus endlosem Gram, aus nicht enden wollendem und nicht wiedergutzumachendem Bedauern? Das hätte ich so nie für möglich gehalten, immer habe ich den Schmerz gering geachtet, den körperlichen Schmerz. Aber das hier, das hat sich eingeschlichen wie ein Dieb in der Nacht, das überlebe ich nicht. Hab Erbarmen, Himmelskönigin. Hab Erbarmen mit deinem Diener…
    Unten hatte eine kundige Hand die Zügel ergriffen, denn der Herr von Brokesford war wie gelähmt. Madame hatte die Tochter der

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