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Die Zauberquelle

Titel: Die Zauberquelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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vernehmen, und der Vogel hockte sich neben dem Korb auf die Bank. Cecily und Alison verhielten sich so still, daß sie kaum noch atmeten. Der Vogel legte den Kopf schief und musterte sie mit schlauen schwarzen Äuglein.
    »Und Ihr, Mademoiselle Cécile, Ihr dürft auf der Straße keine kecken Blicke werfen. Denkt daran, immer schön auf die Zehen blicken. Ein züchtiger, nach unten gerichteter Blick ist für ein wohlerzogenes Mädchen unerläßlich.« Der Vogel saß ganz still und beäugte den Korb. Er legte erneut den Kopf schief. Schönes Garn. Ein glänzender Knopf. Der große Mensch hat sein Nest prächtig gepolstert. Die beiden kleineren Menschen sitzen ganz still und blicken sich an, ohne sich zu rühren. Ich kann ihre Gedanken erraten. Sie sagen, ich soll es tun.
    »Zur passenden Betätigung in Gesellschaft gehören Spiele wie Schach und Backgammon, nicht jedoch Würfeln, und eine Lady spielt nie um Geld. Gemeinsamer Gesang ist ein gefälliger Zeitvertreib, desgleichen Zuhören, wenn Heldensagen und Heiligenlegenden vorgelesen werden, aber die gräßlichen, in Mode gekommenen Erzählungen von ritterlicher Minne und unzüchtigen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die dürft Ihr Euch niemals anhören. Wenn solche Themen angeschnitten werden, entschuldigt Euch höflich und verlaßt den Raum. Frauen streiten nicht mit Männern, sondern unterwerfen sich demütig ihrem klügeren Urteil – laßt nie durchsickern, daß Ihr lesen könnt, denn eine Frau, die lesen kann, ist für Schmeichler eine leichte Beute und kann keine treue Ehefrau sein… O Dieu! Was ist das?«
    Der räuberische Vogel hatte ungestüm und jäh zugehackt, hatte sich den ersehnten Knopf geschnappt und flog nun in den Pfirsichbaum. »Mein Knopf, mein schöner Knopf, der abscheuliche Vogel hat ihn mir weggenommen!« Madame stand so plötzlich auf, daß ihre Näherei und ihre kostbare Nadel zu ihren Füßen ins Gras fielen. »Untier, du Untier, fang ihn, fang ihn, Cecily!« O Wunder, Madame war zu Englisch zurückgekehrt, ein Englisch, das von Herzen kam und das man noch nie von Madames vornehmen Lippen gehört hatte. Cecily machte große Augen, und sie freute sich nicht nur über die Untat des Vogels, sie staunte auch. War Madame wirklich ein Mensch, konnte sie Kummer empfinden? Auf einmal erschienen ihr Madames hochnäsige Allüren, ihr gräßliches Sichunterordnen, ihre kleinen Bequemlichkeiten in einem ganz neuen Licht. Madame stand unter dem Pfirsichbaum und schrie zu dem Vogel hoch: »Schäm dich, schäm dich! Laß ihn fallen, laß ihn fallen, du gräßliches Tier! Was willst du denn damit?« Während Cecily eine Harke holte, flog der Vogel triumphierend vom Pfirsichbaum ins Geäst der hohen Ulme, die ihre Zweige über die Gartenmauer streckte.
    »Sein Nest, da ist sein Nest! Er will ihn verstecken!« schrie Alison und blickte zu der unordentlichen Ansammlung von Stöcken hoch, die er in luftiger Höhe zwischen die Zweige gezwängt hatte. Aber Cecily hatte bereits die Röcke geschürzt und kletterte auf den in die Mauer eingelassenen Zierbrunnen. Oben auf der Mauer streifte sie ihre Schuhe ab, und die fielen, plumps, plumps, auf den mit Thymian gesäumten Pfad neben dem Brunnen.
    »Kommt herunter, kommt sofort herunter, Cécile«, rief Madame und kehrte wieder zum Französischen zurück. »Das ziemt sich nicht! Madame, Eure Mutter heißt das nicht gut. Ich heiße das nicht gut!« rief sie zu ihr hoch. Graue Haare hatten sich aus ihrer schlichten Witwenhaube gelöst. Ihre Stimme klang verzweifelt. Cecily war schon auf halber Höhe des Baums.
    »Ich hole ihn wieder«, schrie Cecily von oben auf englisch herunter. »Guckt mal. Ich kann gut klettern.« Die dünnen Äste knackten bedrohlich unter ihrem Gewicht. Der Vogel hatte seinen Schatz versteckt und flog ihr ins Gesicht, als sie sich dem Nest näherte, und sie hob den Arm, wollte ihn abwehren, während sie sich mit Knien und nackten Zehen festhielt.
    »Kommt herunter, kommt herunter!« rief Madame. »Laßt ab, ach, es lohnt doch nicht! Kommt herunter, der Gärtner soll auf der Leiter hochklettern. Nicht höher! Ich höre Zweige brechen!« In der Gasse jenseits der Gartenmauer liefen Lehrbuben zusammen, wollten sehen, woher das Geschrei rührte.
    »He, die kenn' ich doch! Das ist Cecily Kendall, sie sitzt oben im Baum fest«, teilte einer von Master Wengraves Lehrbuben, der vor Master Kendalls Tod bei jenem in der Lehre gewesen war, der anwachsenden Menschenmenge fröhlich mit.
    »Kommt

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