Die Zauberquelle
herunter, hört Ihr, kommt sofort herunter!« hörten sie im Garten eine Frauenstimme auf französisch zetern.
»Ich… Ich kann nicht«, sagte die magere Gestalt mit dem feuerroten Schopf oben im Baum mit zitternder Stimme. Cecily schwankte bedrohlich in den dünnen Ästen unter dem Nest und blickte auf Mauer und Erde hinab, die so schrecklich tief unten waren. Auf der anderen Seite kamen noch mehr Lehrbuben gelaufen, und man konnte sie rufen hören.
»Wer ist das? He, das ist kein Mädchen, das ist eine besonders große Elster. Ho, das ist gar keine Elster, sondern eine Katze! He, du da oben, miau, miau, komm runter!« Auf der anderen Seite stand Madame und fuchtelte wild mit den Armen, während Alison in dem unbewachten Korb still nach Zucker stöberte. Die Erde wirkte sehr hart und schien zu schwanken. Und je mehr sie schwankte, desto fester klammerte sich Cecily. Hochklettern ging so einfach. Warum hatte sie nicht an den Abstieg gedacht? Sie hatte überhaupt nicht nachgedacht. Jetzt war alles aus. Irgendwann würde es dunkel werden, und sie hielt sich noch immer an den Ästen fest. Ob man ihr in einem Korb Essen hochschicken würde? Kommt man nie wieder runter, oder fällt man irgendwann und bricht sich alle Knochen? Unter sich sah sie zwei Lehrbuben mit einer großen Leiter aus dem Schuppen an Master Wengraves großem Haus herauskommen. Und da, o weh, bog auch schon Mutter mit einem großen Korb voller Markteinkäufe am Arm und Peregrine an der Hand und der Köchin im Schlepptau um die Ecke der Thames Street.
»Uiiiiiimaaamaaaa«, übertönte die ekelhaft durchdringende Stimme des Zweieinhalbjährigen das Gebrabbel. »Guck mal, Cecy iss im Baum. Per'grin will auch im Baum. Heb mich hoch.«
»Cecily, komm herunter«, sagte ihre Mutter entschieden und vernünftig. »Wenn du hochgekommen bist, kommst du auch wieder hinunter. Stell den Fuß einfach auf die Stelle unter dir.«
»Geht nicht«, rief Cecily und klammerte sich noch fester. Weitere Fremde scharten sich um ihre Mutter. Mistress Wengrave kam aus dem Haus gelaufen und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
Unten auf der Gasse hatte Margaret bereits ihren brüllenden Sohn ins Haus geschickt und befehligte die Lehrbuben, wo sie die Leiter anstellen sollten. »Nicht da«, sagte sie. »Seht ihr denn nicht, daß der Steinboden da uneben ist? Lehnt sie hier an. Wir brauchen zwei Erwachsene zum Festhalten. Aber wer klettert hoch? Er sollte behende und nicht zu schwer sein, denn die Leiter muß das Gewicht von zweien tragen.« Dabei hielt sie in der anwachsenden Menschenmenge nach geeigneten Kandidaten Ausschau. Etwas in ihren Augen, ihr Falken–, ihr Feldherrenblick ließ eine Weigerung nicht zu. Ein gedrungener Bursche, der Schürze nach zu urteilen ein Schuhmacher, trat vor und hielt die Leiter fest. Das Geschrei der Menge und der Anblick der schwankenden kleinen Gestalt oben im Baum hatte zwei Männer angelockt, sie waren beritten und noch staubig von der Reise.
»Großer Gott, sieh mal, Denys, das ist ein Mädchen da oben im Baum«, sagte der Ältere.
»Hinter dem Elsternest her, Himmel noch mal, so eine kleine Katze«, antwortete der Jüngere. »Und jetzt kommt sie nicht mehr hinunter.«
»Das erinnert mich an jemanden«, sagte der Ältere.
»Ganz gewiß nicht, Vater«, antwortete der Jüngere. »Ich bin immer hinuntergekommen. Ich setze den Fuß auf die alte Stelle.«
»Und was war mit dem Turmdach?«
»Das läßt sich doch nicht vergleichen. Es war nicht meine Schuld.« Der alte Mann musterte die Frau, die Befehle erteilte. Unweiblich. Mußte die Mutter sein. Für einen Wochentag sehr gut gekleidet. Dieser mit Grauwerk gefütterte Surkot, sehr schön bestickt. Der Schleier, hmm, sah nach Seide aus. Und das Kreuz, das ihr halb verborgen um den Hals hing, massives Gold, fremdländische Arbeit. Und dann die Straße, sehr gute Gegend, zu beiden Seiten hohe, buntbemalte Häuser von wohlhabenden Tuchern und Weinhändlern mit Rittertitel. Der alte Richter hatte eine gute Nase für Rang, Lebensumstände und Bargeldrücklagen derjenigen, die vor ihm standen. Doch nun hatte sich der Blick der Frau auf sie gerichtet.
»Du«, sagte sie zu dem Jungen an seiner Seite, »kannst du klettern?« Die berittenen Gestalten, die die Menge überragten, waren ihr sofort ins Auge gefallen. Gute Mäntel. Schwerter. Womöglich Ritter? Die verstehen sich aufs Leiterklettern. Der Alte, zu schwer, zu steif-graue Fäden im Bart. Der Junge mit den schwarzen Augenbrauen.
Weitere Kostenlose Bücher