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Die Zauberquelle

Titel: Die Zauberquelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Fünfzehn, sechzehn, sieht kräftig aus, hat ein kluges Gesicht. Der ist richtig. Sie fixierte ihn mit grimmigem Feldherrenblick.
    »Vater?« sagte der Junge und bat den Älteren mit den Augen um Erlaubnis.
    »Seid Ihr die Mutter«, fragte der alte Mann mit berechnendem Blick.
    »Ja. Und das da oben im Baum ist meine Tochter Cecily, aber warum sie dort ist, das weiß nur sie selbst«, gab Margaret zurück.
    »Mein Sohn, einer Jungfrau in Nöten verweigert man sich nicht«, sagte der alte Mann und erteilte seinem Sohn damit seinen väterlichen Segen. Der Junge stieg von dem kleinen Pferd mit der Winterdecke herunter, schnallte sein Kurzschwert ab und reichte seinem Vater Waffe, Hut und Umhang. Ein Lehrbube kam gelaufen und hielt sein Pferd.
    »Man merkt dir an, daß du das Mädchen da kennst«, forschte der alte Richter vorsichtig.
    »Ach, wer kennt die nicht? Das ist Cecily Kendall. Sie ist noch nicht mal zehn, aber was die schon alles angestellt hat, kaum zu glauben.«
    »Aha, dann wird sie einmal eine alte Jungfer. So was will doch kein Mann haben.« In den Augen des alten Mannes funkelte es berechnend. Sein Sohn kletterte jetzt die Leiter hoch.
    »Mädchen mit einer Mitgift wie die da bekommen immer einen ab, Master. Das sagt jedenfalls Mistress Wengrave, die Frau meines Lehrherrn, und die kennt sich aus.« Der Graubart lächelte. »Cecily Kendall«, sagte er vor sich hin und prägte sich den Namen ein. Vielleicht eine Verwandte jenes wohlhabenden Roger Kendall, der in der St. Paul's Kathedrale die Votivkapelle für auf See verschollene Seeleute gestiftet hatte? Die Sache war eine Überprüfung wert. Und das hier war so gut wie eine Einführung…
    Inzwischen hingen aller Augen an der Leiter, die nicht bis ganz nach oben reichte. Leicht stemmte sich der drahtige behende Junge von der Leiter zu einem Ast darüber. Die Äste über ihm tragen keine zwei, dachte Margaret und wollte schon rufen: »Nicht höher!« hatte aber Angst, daß jedes Geräusch den kletternden Jungen ablenken würde. Sie bekam kaum noch Luft, als der Junge innehielt und sich unter Cecilys knackendem Hochsitz an den Stamm lehnte. Was sollte das? Würde man beide verlieren? In der Menge war es totenstill geworden. Sogar der Vater des Jungen ließ alle Berechnung fahren und richtete die Augen auf die schwankenden Gestalten, und auf einmal war sein Gesicht blaß und angespannt.
    »He, Kleine, stell deinen Fuß auf meine Schulter«, hörte Cecily eine Stimme unter sich, konnte aber nicht sehen, wer da sprach.
    »Mein Vorname lautet Cecily«, sagte sie und rührte sich nicht.
    »Und meiner Denys. Taste mit dem linken Fuß unter dir nach meiner Schulter. Du fällst schon nicht, wenn du dich gut festhältst.« Sacht, sacht spürte er einen knochigen bloßen Fuß auf seiner Schulter. »Jetzt das Gewicht gut darauf verlagern. Dann den anderen Fuß. Ja, so ist's recht. Jetzt gut festhalten und immer mit den Händen am Stamm entlang, bis du auf meinen Schultern sitzt.« Die Stimme des Jungen klang ruhig, so als wüßte er genau, was er sagen mußte. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin viel größer als du. Und ich halte mich gut fest. Wenn du dich an mir festhältst, fällst du nicht. Nein, nicht am Hals, du erwürgst mich ja. Sitz still. Ich suche uns einen Ast.«
    »Du stehst ja gar nicht auf der Leiter«, flüsterte Cecily entsetzt, umklammerte die Schultern des Fremden und legte den Kopf auf sein schwarzes Haar.
    »Aber fast«, sagte er. »Nicht ruckein.« Etwas von Cecilys Angst hatte sich durch ihr hämmerndes Herz auch auf ihn übertragen. Vorsichtig tastete sein Fuß nach der Leiter. Von unten kam ein Windstoß, ein Aufseufzen aus Dutzenden von Kehlen. Er war noch nie mit einer lebenden Last geklettert und merkte, wie ihr Gewicht drückte. Er hatte sie angelogen. Er war gar nicht soviel größer, und es war schwierig, sie zu tragen. Jetzt auf die Sprosse und immer schön am Ast festhalten, dann einen Fuß nach unten setzen – und jetzt, vorsichtig, vorsichtig, mit der Hand hinterher und immer an den Baum lehnen, redete er sich gut zu. Das Gewicht nach vorn verlagern. Die nächste Sprosse. Laß dir Zeit. Die nächste. Jetzt stand er ganz auf der Leiter. Nur nicht übermütig werden, ermahnte er sich. Langsam, langsam, schön eine Sprosse nach der anderen, noch bist du nicht unten. Die Beine des Mädchens waren knochig und spitz, und ihre Hände erwürgten ihn fast. Sprosse um Sprosse arbeitete er sich nach unten. Jetzt spürte ein Fuß

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