Die Zauberquelle
himmelblauer Kittel reichte ihr beinahe bis zu den weichen ledernen Schuhen. Rings um sie lagen Berge von zerrupften Gänseblümchen mit aufgeschlitztem Stengel für einen nicht vollendeten Kranz, was stummes Zeugnis für einen Ehrgeiz ablegte, dem ihre pummeligen Fingerchen nicht gewachsen waren.
»Pas en anglais«, sagte Madame, ohne von ihrer Näherei aufzublicken. Neben ihr auf der Bank lag in dem Korb zwischen Strängen von Nähgarn ein glänzender Silberknopf. Unter den Nähsachen befanden sich säuberlich eingewickelte Zuckerbrocken, das teuerste und unfehlbarste Bestechungsmittel aus Madames Arsenal an Bildungsmethoden. Alison richtete den erwartungsvollen Blick auf den Korb.
»Wie heißt Elster auf französisch?« fragte sie ihre Schwester in dieser Sprache.
›»Pie‹ natürlich, wie auf englisch auch, du Dummerchen«, gab Cecily zurück, denn sie bildete sich wegen ihres Altersvorsprungs von zwei Jahren viel auf ihr besseres Französisch und auf den fachkundig geflochtenen Gänseblümchenkranz ein, den sie sich auf ihren leuchtenden zerzausten Rotschopf gesetzt hatte. Selbst durch tüchtiges Kämmen und strammes Flechten konnte man ihr Haar nicht bändigen, es war und blieb so aufsässig wie seine Besitzerin. Die Haarbänder, die sie sich morgens in einem Wutanfall geschnappt hatte, paßten farblich nicht; ihr grünes Wollkleid, dessen Saum zweimal ausgelassen worden war, bedeckte die Knöchel ihrer schlaksigen Beine nicht mehr. Cecily war mager und gefühlsbetont und wurde von wilden Stürmen gebeutelt; ein verlorenes Haarband, ein Mottenloch, ein trauriges Lied, eine kurzangebundene Antwort, ein kleiner Welpe oder das Lächeln eines Fremden stimmten sie im Laufe eines einzigen Tages mindestens fünfzigmal himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt und brachten den ganzen Haushalt durcheinander. Das heißt, den ganzen Haushalt mit Ausnahme von Madame.
»So dürfen die Demoiselles nicht miteinander reden«, sagte Madame Agathe in der eleganten fremdländischen Zunge der Dokumente, Verträge und der Hofkreise. »Mademoiselle Alison, wiederholt Eure Frage: ›Liebe Schwester, wie heißt Elster auf französisch?‹, und Ihr, Mademoiselle Cécile, Ihr antwortet höflich: ›Geliebte Schwester, das Wort heißt ›pie‹ und wird im Französischen anders ausgesprochen als im Englischen.‹« Cecily errötete unter ihren Sommersprossen, kniff den Mund zusammen und bohrte mit dem Fingernagel Löcher in die Stengel der Gänseblümchen, die noch auf ihrem Schoß lagen.
Als Alison das sah, funkelte es in ihren Augen. »Innig geliebte Schwester«, sagte sie ekelhaft süß, »wie lautet der Name des Vogels, den wir Elster nennen, in französischer Sprache?«
Cecily bedachte ihr Schwester mit einem Blick, der töten konnte, und antwortete honigsüß und spöttisch: »Herzallerliebste Schwester, ich freue mich, dir mitteilen zu können, daß der Name des Vogels ›pie‹ lautet.«
»Die Demoiselles möchten als Verweis wohl einen Schlag mit dem Fingerhut auf den kleinen verstockten Kopf? Noch einmal, und das in dem gefälligen und gesitteten Ton, wie er sich für junge Ladys ziemt«, verkündete Madame, und die Sätze wurden so lange wiederholt, bis sie zufrieden war. Sie schüttelte das gestopfte Hemd, faltete es und griff sich Kinderbeinlinge, die an den Knien durchgescheuert waren. Alison blickte die Beinlinge und dann ihre Schwester an. Sie rümpfte die Nase, als wollte sie sagen: »Igitt, kleine Jungen, die rumrutschen und ihre Beinlinge durchscheuern, sind eklig, vor allem, wenn es der süße kleine Bruder ist.« Cecily fing den Blick mit blauen Augen auf und erwiderte ihn verständnisinnig. Stimmt, sagten ihre Augen, und beide Kinder nickten, als teilten sie ein Geheimnis.
Madames Nadel kämpfte sich durch die rotbraune Wolle, und sie sagte: »Und jetzt, Mesdemoiselles, nehmen wir noch einmal die Themen durch, die sich für eine höfliche Unterhaltung eignen. Wir reden nie über Geld, Liebschaften oder die Schwächen nicht Anwesender. Alle Edelleute sind ritterlich und alle Ladys wohlerzogen. Gewöhnliche Menschen nennt man eine ehrliche Haut oder eine treue Seele. Ehrbare Männer und Frauen unterhalten sich am besten über fromme Themen, vorausgesetzt, man läßt sich dabei nicht auf einen Disput ein. Aber denkt daran, laßt Euch von keinem Mann, der nicht ein enger Verwandter ist, in der Kirche mit den Fingerspitzen das Weihwasser reichen…« Ein prächtiges Rauschen von schwarzweißem Gefieder war zu
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