Die Zauberquelle
Ihre Blicke schossen hin und her, und ihr unnatürlich braunroter Mund wirkte verzerrt vom endlosen Geheul.
»Wo ist mein Ehrenplatz?« fragte sie. »Wer hat meinen Ehrenplatz eingenommen?« In dem großen Palas herrschte Totenstille, als die grausige Gestalt sich dem Tisch auf der Estrade näherte.
»Hugo, sie gehört dir«, zischte der alte Lord heiser. »Schaff sie raus. Und stell fest, wer die Kammer aufgeschlossen hat, ich will seinen Kopf.«
»Aber – aber, das geht nicht. Seht sie doch an… Fürwahr, sie ist besessen. Das gibt einen Heidenaufstand.«
»Es ist schon jetzt ein Heidenaufstand. Sei ein Mann und kein Modeaffe, und schaff sie raus.« Aber Petronilla hatte schon den Platz des Abtes erreicht.
»Das ist mein Platz. Entfernt Euch und setzt Euch tiefer«, sagte sie.
»Hugo«, zischte Sir Hubert. Doch als Sir Hugo das Wort ›besessen‹ fallenließ, hatte der Kanoniker aufgemerkt. Besessene waren seine Spezialität, und er brüstete sich gern mit seinem Wissen.
»Wie fett Ihr seid«, sagte die grausige Gestalt zu dem Abt. »Seid Ihr auch schwanger?«
»Besessen«, sagte der Kanoniker. »Hört ihr, wie der Teufel aus ihr spricht?« Der Abt drehte sich um und blickte sie entrüstet an.
»O nein, ich sehe schon, ich habe mich geirrt«, sagte sie. »Ihr seid schwanger von den Gänsen armer Leute und den Fasanen aus Wäldern, die Euch nicht gehören.«
»Eindeutig, eindeutig besessen«, sagte der Abt und lehnte sich angewidert zurück. »Nur ein Teufel könnte so reden.«
O lieber Herr Jesus, dachte Margaret und versuchte, sich am Frauentisch unsichtbar zu machen. Wenn sie mich nur nicht hier erblickt. Zwei starke Knechte, die aus der Küche geholt worden waren, hatten sich bei Lady Petronillas Worten leise hinter ihr aufgestellt, während sie die spitze Rückenlehne des äbtlichen Stuhls umklammerte. Blitzschnell packten sie zu, doch sie biß tüchtig um sich und entschlüpfte ihnen wie Quecksilber. Das Blut der Knechte rann ihr aus dem Mund, und sie leckte es ab, als ob ihr der salzige Geschmack zusagte. In Windeseile war sie am anderen Ende des Palas, doch inzwischen setzte ihr ein halbes Dutzend Knechte nach, einer mit einem Seil, ein anderer mit einem Fischernetz.
»Nicht umbringen, sie soll zurück in den Turm«, befahl der Lord von Brokesford. Und wieder entwischte Lady Petronilla. Jetzt stand sie an der freien Seite des Frauentisches genau vor Margaret.
»Das ist dein Werk, du Hexe. Du hast mir das Kind aus dem Schoß gestohlen und es als deines ausgetragen. Und jetzt hast du mir auch das neue gestohlen. Das schneide ich aus dir heraus…« Und bei diesen Worten schnappte sie sich ein Tranchiermesser von einer Platte mit Kapaunen und stieß über den Tisch damit zu. Margaret wich dem Stoß aus, doch da die Bank, auf der sie saß, an der Wand stand, gab es nach hinten kein Entrinnen. Petronilla sprang auf den Tisch, Margaret duckte sich darunter, und die Hunde suchten das Weite. Gilbert eilte ihr zu Hilfe, während Petronilla mit wildem Blick das Messer schwenkte und den Tisch entlanglief, die Knechte, die sie herunterholen wollten, immer hinter ihr her. Genau auf dem Höhepunkt des Tumults erhob sich Madame ungemein gelassen und durch und durch Lady, ergriff mit dem Daumen und den ersten beiden Fingern der rechten Hand einen Fleischspieß, der mit Rebhühnern besteckt in einer schmackhaften Sauce aus Ingwer und Traubensaft auf einer silbernen Platte lag, ohne daß sie die Finger tiefer hineintunkte als bis zum erlaubten ersten Glied, und stieß Lady Petronilla den silbernen Fleischspieß schnell, akkurat und unversehens in den bloßen Knöchel. Die Irre kreischte, machte einen Satz und fiel den Knechten geradewegs in Hände und Netz.
Alle Augen waren auf Lady Petronilla gerichtet, die im Netz zappelte und heulte, während die Knechte versuchten, sie fortzuschaffen, ohne gebissen oder getreten zu werden. Alle Augen, nur ein Paar nicht. Der Herr von Brokesford, dem keine Einzelheit des Scharmützels entging, beobachtete hingerissen, wie Madame mit gelassener und freundlicher Miene die Spitze des Bratspießes fein säuberlich in einer Serviette abwischte und ihn mitsamt den Rebhühnern auf die Platte zurücklegte. Er sah, wie sie alsdann mit einem raschen Handgriff das Tischtuch zurechtzupfte und einem Küchenjungen befahl, die Brotscheiben zu ersetzen, die Lady Petronilla zertreten hatte. Ungeachtet des Wirrwarrs ringsum benahm sie sich, als hätte sie die Oberaufsicht über ein
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