Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
zu erkennen war. Sie traten ein und sofort umfing sie eine ungewohnte Kühle. Auch das unablässige Flackern der allgegenwärtigen Flammen erreichte sie hier drinnen nicht. Michael sah sich überrascht um. Diesen Ort konnte man beinahe als friedlich bezeichnen. Er mochte unwohnlich und ein wenig seelenlos sein, doch an einem Ort wie der Hölle war er wie ein Paradies.
Erst nach einiger Zeit bemerkte Michael, wie der Anführer der Gruppe ihn aufmerksam und beinahe belustigt beobachtete.
„Damit habt ihr nicht gerechnet, was?“, bemerkte dieser und Michael schüttelte wortlos den Kopf.
„Erlaubt mir, mich vorzustellen“, sagte der Mann und reichte Michael die Hand. „Oliver, mein Name ist Oliver“, fügte er hinzu, dann ergriff er Elizabeths Hand und beugte sich zu einem kurzen Handkuss darüber. „Willkommen in unserem Reich!“, sagte er und breitete die Arme aus.
„Wo… wo sind wir hier?“, hauchte Elizabeth fassungslos. „Was ist das für ein Ort?“
Oliver lachte, ein ungewohntes Geräusch in der Hölle, doch es war offen und ehrlich.
„Ihr seid hier in der Kirche der Verlorenen!“
„Der Kirche der Verlorenen?“, fragte Michael verwirrt. „Wie meinen sie das?“
Für einen kurzen Augenblick zögerte Oliver. Dann ging ein Ruck durch ihn und er gab den beiden ein stummes Zeichen ihm zu folgen. Mittlerweile waren sie die letzten in der Eingangshalle des Krematoriums, alle anderen waren bereits durch eine Tür am Ende der Halle entschwunden. Auch Oliver hielt nun auf diese Tür zu und kurz darauf traten sie in die Finsternis eines Treppenhauses, das nach unten führte. Michael konnte es sich nicht erklären, doch nach all der Zeit in der Hitze und dem beständigen Flackern des Feuers auf der Straße wirkte dieser Ort seltsam beruhigend und angenehm auf ihn. Wenn man schon in der Hölle sein musste, dann war dies zweifellos ein besserer Ort dafür, als jeder andere.
Sie waren nun am Fuß der Treppe angekommen und betraten einen schmalen Korridor, an dessen Ende eine Tür offen stand. Oliver blieb hier stehen und wartete. Michael und Elizabeth traten zögernd an ihm vorbei und sahen sich erstaunt um. Vor ihnen öffnete sich eine unterirdische Halle von beachtlicher Größe, in der ein unerwartetes Treiben herrschte. Sicher mehr als zweihundert Menschen waren hier versammelt. Die meisten standen oder saßen in kleinen Gruppen zusammen, man unterhielt sich mit gedämpften Stimmen, hin und wieder war ein leises Lachen zu hören und manchmal erhob sich aus dem leisen Stimmengewirr Gesang. Die Halle wurde von einem ungewöhnlichen Licht erhellt, das beinahe an das freundliche goldene Leuchten der Engel erinnerte, doch weder Elizabeth noch Michael konnten eine Quelle dieses Lichtes ausmachen.
„Was ist das hier?“, stammelte Michael.
„Ich hab’s euch doch gesagt“, erwiderte Oliver. „Das ist die Kirche der Verlorenen.“
„Die Kirche der Verlorenen?“, echote Michael. „Was ist das?“
Eine Weile sagte Oliver nichts. Dann atmete er hörbar aus und wies auf eine kleine Seitennische mit steinernen Bänken, auf die sie sich setzten. Michael und Elizabeth sahen ihn erwartungsvoll an, doch er brauchte eine Weile, um seine Gedanken zu ordnen.
„Ihr wisst sicher, dass die Hölle nicht das Ende ist“, begann er. „Am Tage des Jüngsten Gerichts können auch die Sünder an diesem Ort auf Vergebung hoffen, wenn sie aufrichtig bereuen und der Sünde abgeschworen haben. Sicher, es kommt nicht oft vor…“, Oliver lachte gequält auf, „…aber selbst unter den schwersten Sündern kommt es vor, dass einige von ihnen ihren Irrtum erkennen und aufrichtig bereuen.“
Oliver wies auf die Menschen in der Halle. „All diese Menschen bereuen die Taten, die sie zu Lebzeiten hierher gebracht haben. Ihr befindet euch im dritten Kreis der Hölle. Jenem Kreis, der dem Hass zugehörig ist. Ein jeder hier hat durch seinen Hass schwer gesündigt… durch Mord, Krieg und… durch andere Dinge.“
„Dies ist eine Welt des Hasses?“, fragte Elizabeth. „Deshalb brennt die Welt dort draußen.“
„Ja“, bestätigte Oliver. „Der dritte Kreis der Hölle ist ein Spiegelbild all jener Kriege, die der Mensch durch seinen Hass geführt hat und noch führen wird. Kriege an Orten, deren Namen längst vergessen sind. Kriege zwischen Fürsten, die längst zu Staub zerfallen sind und nun hier weiterkämpfen müssen, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Und mit ihnen sind all jene hier, die an ihrer Seite
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