Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
Menschen, drei Frauen und drei Männer, die mit ausgestreckten Armen blind und offenbar auch taub etwas zu suchen schienen. Sie riefen einander, versuchten ohne einen Anhaltspunkt in der Luft etwas zu ertasten und nahmen doch nichts von ihrer Umwelt wahr. Tränen liefen ihnen die Gesichter herunter und lautes Schluchzen mischte sich immer wieder unter ihre Rufe.
Nachdem Eleanor sich ihnen auf vielleicht zwanzig Meter genähert hatte, verlangsamte sie ihre Schritte. Schließlich blieb sie völlig stehen.
Eine Weile beobachtete sie die sechs. In ihren Handlungen waren sie sich vollkommen ähnlich und doch gab es Unterschiede zwischen ihnen. Jeweils zwei von ihnen, ein Mann und eine Frau, waren in zerschlissene, puritanisch anmutende Kostüme gekleidet. Sie riefen einander mit den Namen Kathryn und Toby. Zwei weitere, ebenfalls Mann und Frau, kamen wohl aus römischer Zeit, sie riefen nach Marcus und Claudia. Die beiden letzten mochten vielleicht aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen. Sie riefen sich mit den Namen Robert und Allys an. Die gesamte Gruppe nahm nicht mehr als zwanzig Meter im Quadrat ein. Sie bewegten sich unablässig, doch wann immer zwei von ihnen einander zu nahe kamen, loderte urplötzlich ein Blitz auf und versperrte ihnen den Weg. Instinktiv sprangen sie dann zurück und suchten in anderer Richtung weiter, bis ihnen auch hier ein Blitz den Weg abschnitt.
„Mein Gott! Wie grausam ist das!“, flüsterte Eleanor beklemmt.
„So ist es eben hier“, vernahm sie die sanfte Stimme Williams zu ihrer Rechten. „Gewöhnt euch daran, denn ihr werdet es nicht ändern können!“
Eine Weile starrte Eleanor auf das absonderliche Treiben vor sich. Dann setzte sie sich erneut in Bewegung.
„Was habt ihr vor?“, hörte sie William hinter sich, doch sie hatte die kleine Gruppe bereits erreicht. Von Nahem erkannte sie die blinden Augen, in deren Weiß sich das rote Lodern des fernen Himmels spiegelte. Noch immer riefen sie laut und schluchzend den Namen ihres Partners, doch finden würden sie einander nie, wenn ihnen nicht jemand half.
Eleanor zögerte. Dann gab sie sich einen Ruck und trat direkt zwischen jene beiden, die Robert und Allys sein mussten. Sie wartete, vielleicht eine halbe Minute, bis die beiden sich wieder einmal aufeinander zubewegten. Dann, als sie kaum noch einen halben Meter auseinander waren und jeden Augenblick der trennende Blitz auflodern musste, griff Eleanor zu. Zunächst umfasste sie Allys‘ Handgelenk, dann Roberts und zog sie aufeinander zu. Kein Blitz leuchtete auf, als die beiden ihre Finger ineinanderlegten und sich endlich berührten.
In diesem Augenblick verschwand das trübe Weiß ihrer blinden Augen und zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit sahen sie einander an.
„Allys!“, hauchte Robert. „Du bist es wirklich!“
„Robert… endlich…“, flüsterte Allys tränenerstickt.
Dann fielen die beiden sich in die Arme und hielten krampfhaft einander fest. Eine Flut von Worten entsprang beiden, als sie einander gleichzeitig ihre Erleichterung und ihre Angst von der Seele redeten.
Eleanor hingegen war schon zu Marcus und Claudia gegangen. Es dauerte knapp eine Minute, bis auch diese beiden einander so nahe gekommen waren, dass sie ihre Handgelenke greifen und ihre Hände ineinander legen konnte. Auch hier verblasste das blinde Weiß ihrer Augen augenblicklich und sie fielen sich ebenso wie Allys und Robert in die Arme.
Zuletzt ging Eleanor zu Kathryn und Tobi hinüber und nahm auch von ihnen jenen Bann, der sie solange getrennt hatte. Es war eigentlich alles ganz einfach gewesen, doch von allein hätte keiner von ihnen sich zu befreien vermocht.
„Was für ein krankes Spiel war das?“, sagte Eleanor aufgebracht zu sich selbst. „Wer hat ihnen so etwas antun können?“
„Dämonen!“, hauchte William an ihrer Seite. Furchtsam blickte er hinauf zum Himmel. „Es war nicht gut, dass du ihnen geholfen hast. Wenn der Dämon, der das hier angerichtet hat, davon Wind bekommt, wird es uns schlecht ergehen. Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen.“
„Du meinst, dass hier war keine Strafe Gottes? Ein Dämon hat das getan?“, fragte Eleanor erstaunt.
„Nichts in der Hölle kommt von Gott“, flüsterte William verängstigt. Noch immer suchten seine Augen den wolkenverhangenen Himmel ab. „Gott lässt sich schon auf der Erde nicht blicken. Aber hier in der Hölle sind wir noch weiter von ihm entfernt. Was immer du hier an Grausamkeiten und anderem Übel
Weitere Kostenlose Bücher