Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
des Unbehagens in ihr Gesicht. Verunsichert ließ sie die Hand von seiner Schulter sinken und runzelte die Stirn.
„Ich habe nichts damit zu tun!“, zischte sie gekränkt. „Ich habe sie nicht angerührt – das habe ich dir doch versprochen!“
„Kannst du dasselbe auch von Asasel behaupten?“, schnappte Raphael zurück. Seine Stimme klang hart und verbittert und er nahm mit Genugtuung wahr, wie seine Worte Lilith verletzten.
„Nein… das kann ich nicht“, gab sie schließlich leise zu. „Aber ihm ist bewusst, dass er es mit uns beiden zu tun bekäme, wenn er sich nicht an die Abmachung hält.“
Raphael schnaubte. „Ein schöner Trost!“, murmelte er, während er seinen Blick wieder den letzten Strahlen der untergehenden Sonne zuwandte. „Selbst du gibst zu, dass irgendetwas geschehen sein muss. Und doch darf ich nicht von deiner Seite weichen und der Sache auf den Grund gehen.“
Voll unterdrückter Wut ballte er die Faust und starrte den brennenden Horizont an. Unsicher streckte Lilith wieder ihre Hand nach ihm aus. Sie hätte ihn gern berührt, doch in diesem Augenblick wagte sie es nicht.
„Sie ist nicht länger ein Teil deines Lebens!“, wandte sie ein, doch ihre Stimme klang längst nicht so sicher, wie sie gern gewesen wäre. Ihr war vollkommen bewusst, dass Raphaels Anwesenheit allein von ihrer Abmachung abhing, der zufolge kein Engel Eleanor Unheil zufügen dürfte. Wenn auch nur der leiseste Zweifel am Wert dieser Übereinkunft in ihm aufkäme, würde sie ihn nicht länger halten können. Dann würde absolut nichts ihn noch länger an sie binden.
„Komm“, sagte sie leise und wandte sich ab.
Raphael zögerte einen Augenblick, dann erhob er sich und folgte ihr. Die Sonne war nun endgültig untergegangen und die ersten Sterne begannen am Firmament aufzuleuchten. Es würde eine klare Nacht über Dragowicze sein, doch Lilith hatte nicht vor, in den kommenden Stunden hier zu sein. Tagsüber mochte sie für die Kinder des Waisenheims da sein, doch des Nachts flog sie über die Länder der Erde, rastlos und von einem unbekannten Drang getrieben. Einem Drang, den sie sich nie hatte erklären können. Seit Raphael bei ihr war, hatte dieser Drang nachgelassen, doch mehr aus Gewohnheit denn aus einem inneren Antrieb heraus flog sie noch immer fast jede Nacht über die Länder und Meere dieser Welt. Es war, als würde sie durch diese nächtlichen Flüge die innere Ruhe und Ausgeglichenheit erlangen, die sie zu ihrem Tagwerk mit den Kindern benötigte.
In den ersten Nächten, seitdem Raphael bei ihr war, hatte sie sich unglaublich wohl dabei gefühlt, ihn auf diesen Flügen an ihrer Seite zu haben. Es war ihr vorgekommen, als hätten zwei getrennte Hälften eines Ganzen endlich zueinander gefunden, wenn sie nebeneinander her über den nächtlichen Himmel rasten.
Dann jedoch hatte sich Ernüchterung breitgemacht, als sie feststellen musste, dass nur ein kleiner Teil Raphaels bei ihr war. Sicher, er sprach mit ihr, war unentwegt an ihrer Seite. Doch das war nur ein winziger Teil dessen, was ihn ausmachte. Der weitaus wichtigere Teil, jener Teil den sie begehrte, war ihr verschlossen. Raphael war in sich gekehrt, schweigsam und manchmal fast zynisch. Er lächelte nie und ein Ausdruck von Bitterkeit hatte sich in sein Gesicht gegraben. Es tat Lilith weh, ihn so zu sehen. Und doch hatte sie bislang nicht aufgegeben, ihn auf ihre Seite ziehen zu wollen. Liebe mochte man nicht erzwingen können, doch sie konnte wachsen. Sie war sich noch immer vollkommen sicher, dass er schließlich erkennen würde, dass sie die Richtige war. Dass sie ihm etwas bieten konnte, was niemand sonst vermochte. Und dafür würde er sie lieben, daran glaubte sie fest.
Und zunächst hatte auch alles danach ausgesehen, dass sie Recht behalten würde. An jenem Tag, als Lilith Raphael mit nach Dragowicze gebracht hatte, waren so viele Dinge geschehen, die sie hatten hoffen lassen. Raphael hatte das Waisenheim betreten und sofort waren die Kinder auf ihn zugestürmt. Seine Freundlichkeit und zurückhaltende Art hatte jedes der Kinder im Handumdrehen für ihn eingenommen und Lilith hatte einen Stich der Eifersucht in sich gespürt, als sie an ihre eigenen ersten Tage zurückgedacht hatte, in denen sie um die Liebe der Kinder hatte kämpfen müssen. Jenen Kampf hatte sie damals gewonnen und den um Raphael wollte sie unter keinen Umständen verlieren, doch ihr war vollkommen bewusst, dass die Liebe eines einsamen Kindes nicht von
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