Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
springen können, doch in diesem Augenblick verspürte keiner von ihnen den Drang, unnötig aufzufallen und die Aufmerksamkeit der Menschen dort unten auf sich zu lenken. Vielleicht bestand eine geringe Chance, ungesehen an ihnen vorbeizugelangen.
So dauerte es eine Weile, bis sie sich alle am Talboden wiederfanden und ein letztes Mal tief durchatmen konnten, bevor sie sich erneut auf den Weg machten.
Die Talsohle erstreckte sich nun kilometerweit vor ihnen bis zum Horizont und dort, von einem grauen Nebelschleier fast verborgen , ragten die kranken Umrisse des Gebäudes auf, an dem Abertausende von Seelen sinnlose Sklavendienste leisteten.
Sie waren indes nicht weit gelaufen, als sie auf die ersten dieser Seelen trafen, die hier mit dem Brechen von Steinen das Baumaterial herbeizubringen hatten. Eine kleine Gruppe von vielleicht zwanzig Menschen hockte hier auf dem felsigen Boden und schlug mit faustgroßen Steinen auf die dunklen Felsen ein. Die scharfkantigen und spitzen Steine rissen ihre Haut auf und ließen sie aus zahlreichen Wunden bluten, während sie zugleich in Schmutz und Schweiß vor sich hinvegetierten und die Neuankömmlinge nicht einmal wahrnahmen. Der warme Wind trieb den betäubenden Gestank ihrer Ausdünstungen zu Eleanor und den anderen hinüber und ein jeder von ihnen schauerte unwillkürlich.
„Sie stinken!“, stellte Toby erstaunt fest.
„Wie kann das sein?“, fragte Allys. „Und wie können sie bluten? In der Welt des Todes dürfte es das nicht geben…“
Eleanor zuckte verwirrt mit den Schultern. Es gelang ihr nicht den Blick von jenen Unglücklichen abzuwenden und doch war sie so angewidert von dem was sie sah, dass sie innerlich zu frieren begann.
„Es sind ihre Seelen die bluten und es sind ihre Seelen die stinken!“, erklang Williams Stimme flüsternd an ihrer Seite. „Sie mögen keine Körper mehr haben, doch auch eine Seele kann verletzt werden. Sagt man nicht auch, dass ein Herz bluten kann? Dies ist es, was wir hier sehen – diese Seelen sind so schmutzig wie jene Sünden, die sie hierher gebracht haben. Und nun werden sie gequält und verletzt bis auf den Grund ihrer Existenz. Allein unser inneres Auge weiß sich nicht anders zu helfen, als hier geschundene Körper zu sehen.“
„Das ist ja unfassbar“, wimmerte Kathryn.
In diesem Augenblick brach eine Gruppe von fünf Arbeitern einen tonnenschweren Block aus dem Felsen. Gott allein mochte wissen, wie lang sie mit ihrem unzureichenden Werkzeug dafür benötigt haben mochten, ihn vom umliegenden Muttergestein zu trennen. Doch nun, da sie die letzten Verbindungen durchschlagen hatten, neigte er sich wie in Zeitlupe zur Seite und schlug dann donnernd auf dem Boden auf. In seinem geschwächten Zustand reagierte einer der Männer nicht rechtzeitig und wurde von dem Monolith erfasst.
Ein unmenschlicher Aufschrei hallte über die Ebene und stieg in den feuerverhangenen Himmel hinauf, als der Stein das Bein des Mannes zertrümmerte. Keiner der anderen kümmerte sich um den verletzten Genossen. Sie alle waren einander so fremd, dass sie ihn vermutlich nicht einmal wirklich sahen. Stattdessen begannen sie nun den riesigen Stein unter Aufbietung all ihrer Kräfte über die zerklüftete Ebene zu ziehen und zu schieben. Immer weiter auf das Gebäude am Horizont zu. Weiter, weiter, ohne Unterlass. Dass sie dadurch die Qual des Verletzten unter dem Stein vervielfachten, bemerkten sie ebenso wenig.
Eleanor begann bei diesem Anblick zu weinen. Kathryn und Allys hatten ohnehin längst alle Selbstbeherrschung verloren und schluchzten hemmungslos. Schließlich lief Eleanor auf den Verletzten zu, in der unsinnigen Hoffnung, ihm helfen zu können. Doch als sie schließlich bei ihm ankam und neben ihm auf die Knie sank um nach seiner Hand zu greifen, schlug er vor Schmerz wie von Sinnen wild um sich. Vermutlich nahm er nicht einmal wahr, dass jemand neben ihm kniete, denn sein Blick blieb nirgends haften, sondern flackerte irr und unkontrolliert hin und her.
„Lass ihn! Du kannst ihm nicht helfen!“, sagte William an ihrer Seite, während er Eleanor wieder auf die Beine half.
„Aber wir können ihn doch nicht hier so liegen lassen“, jammerte Eleanor.
„Es gibt nichts was wir für ihn tun können“, erwiderte William mit müder Stimme. „Die Wunden seiner Seele sind zu tief, als dass wir etwas erreichen könnten.“
Dann zog er Eleanor sanft mit sich.
Es dauerte seine Zeit, bis sie alle sich wieder so weit beruhigt
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