Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
doch Raphael war ihr bereits voraus und öffnete soeben die Tür zum eigentlichen Büroraum. Er sah sie auffordernd an und betrat dann den Raum. Lilith huschte hinter ihm her und schloss auch dort die Tür hinter sich.
Mittlerweile hatte Raphael Dr. Marcus‘ Schreibtisch erreicht und blätterte in den Unterlagen, die er aus den Schubladen zog. Es dauerte nicht lang, dann hörte Lilith ihn scharf Luft einatmen.
„Was ist? Hast du etwas gefunden?“
„Und ob!“, stieß Raphael mit zusammengebissenen Zähnen aus. Lilith trat zu ihm und sah ihm über die Schulter. Offenbar waren sie auf ein ganzes Dossier gestoßen, das Dr. Marcus über Eleanor angelegt hatte. Seine eigenen Berichte waren hier mit Zeitungsauschnitten der vergangenen Tage und Wochen vermengt. Artikel, die von grauenhaften Geschehnissen berichteten. Von verschwundenen Insassen und dem Nervenzusammenbruch eines Mädchens, das sich schließlich hatte umbringen wollen.
„Sie hat sich das Leben genommen?“, hauchte Lilith fassungslos.
„Ich weiß es nicht!“, zischte Raphael, während er hektisch die ungeordneten Zeitungsschnipsel in eine Reihenfolge zu bringen versuchte. „Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht!“
Völlig verstört trat Lilith einen Schritt zurück. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen starrte sie Raphael vor sich an, der geradezu panisch die Aktenseiten und Papierschnipsel auf dem Tisch durchsuchte und sie nicht länger wahrnahm. Plötzlich wurde ihr kalt , als sie erkannte, dass er für sie niemals das empfinden würde, was er für Eleanor empfand. Für sie würde er niemals so schmerzerfüllt reagieren, niemals solche Angst um sie haben. Sollte sie eines Tages sterben, so wäre es ihm egal.
Eine unbändige Wut durchfuhr sie, brennender Zorn und Hass auf diese Ungerechtigkeit schlugen durch ihren Leib. Sie spürte, wie das rote Leuchten von ihrem Körper Besitz ergriff und die Welt in ihren Augen in ein Meer aus Hitze und Flammen tauchte. Sie kannte diese Wut – schon unzählige Male hatte dieses Gefühl Leben gekostet. So viele Menschen waren in solchen Momenten durch ihre Hand zu Tode gekommen. So viele Menschen, doch noch nie ein Engel. Und nun stand einer vor ihr und er kehrte ihr den Rücken zu. Würde sie dadurch sterben – es wäre ihr egal gewesen.
Doch in diesem Augenblick schrie Raphael auf.
„Oh mein Gott, sie lebt noch!“
Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Ein Klicken ließ die beiden herumfahren und zur Tür blicken. Dort stand Dr. Marcus und sah sie an. Seine Augen weiteten sich, als er Raphael erkannte, doch ihm blieb keine Zeit mehr, etwas zu sagen. Die beiden Eindringlinge vor ihm leuchteten plötzlich hell auf, entfalteten zwei gewaltige Flügelpaare und noch während der kleinere der beiden ein fauchendes Geräusch von sich gab, verlor er das Bewusstsein.
„Warum hast du ihn nicht früher bemerkt?“, rief Lilith Raphael durch das Rauschen ihrer Flügel in der kalten Nachtluft aufgebracht zu.
„Ich war unaufmerksam“, rief Raphael zurück. „Wie wäre es dir in meiner Situation ergangen?“
„Ich weiß es nicht!“, zischte Lilith leise zu sich selbst. Sie gewannen nun schnell an Höhe, nachdem sie den Park von Stratton Hall verlassen hatten und in die Nacht hinaus flogen.
„Egal. Er wird sich an nichts erinnern können, wenn er wieder aufwacht.“, rief Raphael ihr zu.
„Was hast du getan? Sein Gehirn zu Brei verarbeitet?“
„Das war nicht nötig. Ich habe nur sein Kurzzeitgedächtnis gelöscht.“
„Bei Gelegenheit musst du mir zeigen wie das geht.“
Im Flug sah Raphael zu Lilith zurück und schüttelte den Kopf.
„Du bist mir schon jetzt zu mächtig“, stellte er fest. „Solche Dinge werde ich dich nicht lehren.“
Lilith biss die Zähne zusammen und sah ihn zornig an. „Und jetzt?“, fragte sie giftig. „Was hast du eben in diesem Büro gelesen? Und wo geht es jetzt hin?“
„Nicht weit. Unser Ziel liegt dort vorn!“
Mit diesen Worten setzte Raphael zu einem sanften Sinkflug an und hielt dabei auf die Lichter der Stadt Bude zu, die vor ihnen im Dunkel leuchteten. Ein paar Minuten zog er Kreise über der Stadt um sich zu orientieren, dann hielt er auf einen großen Gebäudekomplex zu, der sich am Stadtrand befand und selbst zu dieser Stunde noch hell erleuchtet war. Kurz darauf landete er auf einem Parkplatz nahe dem Hauptgebäude. Lilith hatte alle Mühe seinen langen Schritten zu folgen, während er zielstrebig zwischen den wenigen Fahrzeugen hindurch
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