Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
Wäsche schauen, wenn ihnen die völlig zerstörte Eingangstür auffiel.
Die beiden eilten die Korridore der Klinik entlang ohne nach links oder rechts zu blicken. Menschen, die ihnen mit teilnahmslosen Gesichtern entgegenkamen, wichen ihnen wie von Zauberhand aus. Nur einmal bemerkte Lilith eine Frau im Bademantel, die nach ihrem unfreiwilligen Schlenker an die Wand nach ihrer Schläfe griff und die Stirn in Falten legte. Offensichtlich schrieb sie ihr Ausweichmanöver einem kurzen Schwindelanfall zu.
„Ich weiß was du denkst!“, sagte Raphael ohne den Blick von seinem Ziel, der nächsten Durchgangstür, zu wenden. „Du fragst dich, woher auf einmal meine Skrupellosigkeit kommt.“
Wieder zersplitterte eine Glastür, während die beiden in den nächsten Korridor wechselten.
„Station III. Hier ist es“, wechselte Raphael das Thema. „Zimmer neun…zehn…elf.“
Eine schlichte orangefarbene Tür lag vor ihnen. Doch anstatt sie zu öffnen zögerte Raphael plötzlich. Seine Hand blieb über der Türklinke schweben und wagte doch nicht, sie herunter zu drücken.
Sanft legte Lilith ihre Hand auf die Raphaels.
„Du bist nicht skrupellos“, sagte sie leise. Ihre Stimme hatte jede Häme, jeden Zorn und jeden Zynismus verloren. „Du hast Angst vor dem, was dich hinter dieser Tür erwartet und kannst doch nicht erwarten endlich Gewissheit zu bekommen.“
Dann drückte sie Raphaels Hand sacht auf die Türklinke. Ein leises Klicken ertönte, als sich das Schloss öffnete.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war für Raphael schlimmer als alles, was er je zuvor gesehen hatte. In dem Raum stand nur ein einziges Bett, umgeben von ganzen Batterien an medizinischen Geräten, Schläuchen, Monitoren und Kabeln. Den Menschen, der inmitten all dessen lag, konnte man kaum erahnen. Ein unbestimmter Geruch lag in der Luft, beißend, unnatürlich und unangenehm.
Ein erstickter Laut entfuhr Raphael, der Lilith zusammenfahren ließ. Wie in Trance bewegte er sich auf das Bett zu, dann sank er vor Eleanors zerschmettertem Körper auf die Knie und begann zu weinen.
Seltsamerweise war der unbändige Zorn, der Lilith noch vor kurzem in Dr. Marcus‘ Büro überkommen hatte, vollkommen verschwunden. Der Anblick Raphaels, der hilflos und von Schmerzen zerrissen an Eleanors Bett kniete, war für sie fast unerträglich. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass Engel weinen können. Vielleicht geschah dies gerade zum ersten Mal seit Gottes Schöpfungsakt. Sie konnte Raphaels Gesicht nicht sehen und daher nicht sagen, ob er wirklich Tränen weinte. Doch die Geräusche und die Bewegungen seines Körpers waren mehr als eindeutig. Wie oft hatte sie als Mensch ebenso geweint wie er es jetzt tat? Wie lang mochte das her sein? Dreitausend Jahre? Viertausend?
Sie hätte alles darum gegeben jetzt auf ihn zugehen zu können, ihn in die Arme zu nehmen und ebenso zu trösten, wie er es damals auf den Dächern von Dragowicze mit ihr getan hatte. Doch sie wagte es nicht. Dies war ein Augenblick zwischen Raphael und Eleanor. Sie hatte kein Recht ihn zu berühren.
Nach einer Ewigkeit wie es schien, beruhigte er sich ein wenig. Zärtlich betrachtete er Eleanors Gesicht, dass bleich und vom Tod gezeichnet zwischen den Bandagen ihres Kopfes zu sehen war. Dann griff er nach Eleanors Hand und streichelte sie behutsam.
„Ihr Rückgrat ist gebrochen. Und viele andere Knochen auch, ich kann es spüren“, flüsterte er.
„Warum kannst du ihre Seele nicht fühlen?“, fragte Lilith mit belegter Stimme.
Raphaels Hand erstarrte. „Sie… sie ist nicht da!“
„Nicht da?“ Lilith eilte an seine Seite. „Was heißt sie ist nicht da? Sie ist doch nicht tot, also muss ihre Seele hier sein!“
„Sie ist es nicht!“ Verwirrt blickte Raphael zu ihr empor. „Ihre Seele hat sich vom Körper gelöst. Sie ist definitiv nicht in diesem Raum!“
„Aber wo kann sie dann sein? Ist sie schon bei Gott?“
Raphael gab ein schnaubendes Geräusch von sich. „Wohl kaum. Ihr Körper lebt doch noch…“
„Du glaubst…“, Lilith schlug die Hände vor den Mund. „Du glaubst, sie ist in der Hölle?“
Irritiert blickte er sie an.
„Ich weiß nicht, was in dem Treppenhaus in Stratton Hall geschehen ist, aber dort kann nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein“, erwiderte er sichtlich verwirrt. „Elizabeth war nicht mehr dort. Und Eleanors Seele kann sich nur an drei Orten aufhalten. Erstens im Himmel, aber dazu muss man definitiv gestorben sein. Zweitens
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