Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
teilten sich die Nebelschwaden und gaben den Blick frei auf das Grauen zu ihren Füßen.
„Was ist dort?“, vernahm Eleanor Tobys Stimme hinter sich. „Ich kann es nicht sehen!“
Eleanor schluchzte auf. „Besser du siehst es nicht!“
Sanft drängte William sich an ihre Seite und warf ebenfalls einen Blick hinab. Und auch ihm stockte der Atem. Dort unten, unrettbar verloren und ohne eine Aussicht auf Gnade, brannten abertausende von Seelen in der Hitze des Magmas aus dem Inneren der Erde. Und jetzt erkannten sie auch, was für ein Geräusch sie seit geraumer Zeit vernommen hatten. Kein Wind hatte das unheimliche Heulen hervorgerufen – es war das grausige Geschrei unzählbarer gepeinigter Seelen gewesen, das zu einer Kakophonie des Schmerzes und der unfassbaren Angst angeschwollen war und die steilen Felswände des Vulkans bis zu ihnen empor hallte.
„Mein Gott… was… was…“, stammelte Robert fassungslos. Er war ebenso wie die anderen kreidebleich geworden.
„Der achte Kreis fasst all jene Menschen zusammen, die sich aus Gleichgültigkeit gegen Gott stellten“, flüsterte William tonlos und ohne den Blick von jenem Leid zu ihren Füßen zu nehmen. „Sie alle entschieden sich bewusst dafür blind gegenüber Gott zu sein. Aus Hochmut, aus Geringschätzung, aus Verachtung. Nun werden sie bestraft, indem sie in den achten Kreis der Hölle geworfen wurden und in dessen Nebel sie blind und alleingelassen umherirren müssen, bis sie irgendwann in dieses Höllenloch fallen. Und dort werden sie brennen… bis zum Tag des Jüngsten Gerichts!“
Kathryn wimmerte auf und verbarg ihr Gesicht an Tobys Brust. Auch Allys und Robert nahmen einander in den Arm.
„Wer sich gegen Gott entscheidet, wird eines Tages fallen“, stellte Toby furchtsam fest. Nacheinander wandten sie alle nun die Gesichter von jenem Treiben in der Tiefe ab und traten einige Schritte vom Abgrund zurück. Noch ein weiteres Mal hinabzublicken vermochte keiner von ihnen.
„Was tun wir jetzt?“, fragte Robert nach einer Weile. „Der Weg endet hier. Und diesen Krater zu umgehen erscheint mir schwierig, er ist an den Rändern steil und unwegsam. Außerdem ist der Krater riesig, ich kann nicht einmal seine Ränder sehen.“
„Wir sind auch über die Ebene mit den Akoloythoi gekommen und wir haben zweimal die schwarzen Grenzflüsse überquert“, erwiderte Eleanor nach einem kurzen Zögern. „Wir werden hinabsteigen und uns einen Weg zu suchen.“
„Dort hinab?“, schluchzte Allys. „Hinab zu den brennenden Seelen? Das kann ich nicht… ich habe Angst!“
Robert drückte sie sanft an sich. „Wir haben alle Angst, Allys. Aber der Weg aus dieser Hölle führt direkt durch sie hindurch. Wir müssen es versuchen.“
„Wir… wir könnten versuchen in die Vorhölle zurück zu fliehen. An jenen Ort von dem William erzählt hat. Dort ist es friedlich. Dort gibt es sogar einen Priester.“
„Nein!“, rief William schärfer als beabsichtigt. „Ich werde nicht dorthin zurückkehren. Dort mag es friedlicher zugehen als in den Tiefen der Hölle. Aber deinen Seelenfrieden wirst du auch dort nicht finden. Die Hölle ist überall schlimm und ich habe es satt, hier noch länger leiden zu müssen. Ich will die Hölle ganz verlassen. Und ich weiß, dass mir das mit niemandem eher gelingen kann, als mit Lady Eleanor.“
Allys blickte betreten zu Boden. Dann nickte sie zögernd, ohne einen der anderen anzublicken. Langsam ging Eleanor auf sie zu und legte ihr die Hand sanft auf die Schulter.
„Für seine Angst muss sich niemand schämen“, sagte sie. „Nur für seinen Unwillen, diese Angst besiegen zu wollen.“
Dann wandte sie sich ab und begann vorsichtig den Abstieg in die leuchtenden Tiefen des Kraters. Die anderen folgten ihr mit geringem Abstand, immer darauf bedacht keine Gerölllawinen auszulösen. Tatsächlich stellte Eleanor schnell fest, dass die Wände des Kraters zwar steil, aber doch relativ sicher waren. Ihre Gefährlichkeit entstand vor allem daraus, dass sie in den Nebeln dort oben leicht zu übersehen waren und wer erst einmal im Sturz nach unten war, würde kaum eine Chance erhalten, sich irgendwo festzuhalten.
Nach und nach kamen die sechs dem Grund des Kraters näher. Das Schreien und Heulen der brennenden Seelen hatte eine ohrenbetäubende Lautstärke angenommen. Wäre Eleanor zum Klettern nicht auf ihre Hände angewiesen gewesen, so hätte nichts auf der Welt sie davon abhalten können, sich die Ohren zuzuhalten. Zu
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