Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
ihren Begleitern nach oben zu blicken wagte sie längst nicht mehr, aus Angst, bei ihnen die gleiche Erschöpfung und Verzweiflung wahrzunehmen, die sie selbst in sich spürte. So sah sie stattdessen nach unten und gewahrte die brodelnde und glühende Magma nur noch wenige Meter unter sich. Dort, zu ihren Füßen, sah sie einen schmalen Vorsprung, auf dem sie sich kurz würde ausruhen können wenn sie angekommen wäre. Doch was ihr vor Grausen einen Kälteschauer über den Rücken jagte, waren die zuckenden und schreienden Leiber der Verdammten, die sie in den kochenden Lavamassen erkannte. Keiner von ihnen schien tatsächlich zu verbrennen. Doch dass sie den Schmerz des heißen Magmas spürten und darunter bis auf den Tod litten, konnte niemand bezweifeln.
„Gott gib mir Kraft!“, murmelte Eleanor, während sie die letzten Meter bis zum Felsvorsprung an den Ufern des Lavasees zurücklegte. Dann stand sie endlich am Grund des Kraters und blickte über den glühenden See, dessen gegenüberliegendes Ufer im Dunst kaum auszumachen war.
Nach und nach trafen nun auch die anderen ein. Zunächst William, dann Robert und Allys, Toby und schließlich Kathryn.
„Da wären wir also“, stellte Toby fest. „Wie geht es jetzt weiter?“
Einen kurzen Augenblick sahen sich alle an, keiner sagte ein Wort. Dann räusperte Eleanor sich.
„Ich habe eine Theorie. Wenn sie stimmt, kommen wir vielleicht über diesen Flammensee.“
Fünf Augenpaare blickten Eleanor ratlos an. Und da niemand etwas sagte, wandte sie sich schließlich um und trat auf den glühenden See zu. Es wurde fast unerträglich heiß, während Eleanor sich nun Zentimeter für Zentimeter näher an die brodelnde und wabernde Masse aus geschmolzenem Stein heranwagte. Und dann geschah es – als sie nur noch wenige Handbreit von der heißen Oberfläche des Sees entfernt war, kräuselten sich plötzlich die Wellen des heißen Magmas und der See wich vor Eleanor zurück.
„Wie kann das sein?“, hörte sie Toby hinter sich rufen.
Eleanor wandte sich um und sah ihre kleine Gruppe lächelnd an.
„Habt ihr es denn nicht bemerkt? Erst haben die Grenzflüsse mich passieren lassen. Und dann schrie der Akoloythos vor Schmerz auf, als er mich berührte. Ich denke, irgendetwas will, dass wir vorankommen.“
„Nein!“, widersprach William bestimmt. „Ich glaube eher, dass es mit eurer Anwesenheit hier in der Hölle zu tun hat. Ihr habt uns nie erzählt, wie ihr eigentlich hierhergekommen seid. Aber so wie es aussieht, kann das Böse euch nicht berühren. Die Akoloythoi können es nicht und auch die Naturgewalten der Hölle nicht. Sie ziehen sich vor euch zurück, Milady, weil eure Berührung ihnen Pein zufügt.“
„Gleichwohl“, warf Robert ein. „Eleanor hat in einem Punkt recht. Sie kann als Einzige die Grenzen überwinden, die in der Hölle einen jeden an seinem Platz halten. Ganz egal, warum es so ist, aber so kommen wir über den See. Wir machen es wie mit den Grenzflüssen und gehen mitten hindurch!“
„Und wenn dieser See keinen Grund hat, auf dem man gehen könnte?“, schrie Allys auf. „Und habt ihr euch den See mal angesehen? Dort schwimmen schreiende und brennende Menschen. Wie wollt ihr zwischen ihnen hindurch kommen ohne wahnsinnig zu werden?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Eleanor tief in Gedanken versunken, während sie nachdenklich über die brodelnde Oberfläche des Sees blickte. „Ich weiß es nicht.“
Dann trat sie langsam vor und verließ mit einem einzigen Schritt den Felsvorsprung. Mit einem laut pfeifenden und kreischenden Geräusch wich die Lava zu ihren Füßen zurück. In die brodelnde Lavamasse kam unerwartet Bewegung als sich Schockwellen von Eleanors Position aus über den brennenden See zogen. Das Heulen und Stöhnen der gepeinigten Seelen schwoll zu einem neuen Crescendo der Agonie und Furcht an, als Eleanor nun in den See hinausging. Und ebenso wie sie es zuvor schon bei den schwarzen Grenzflüssen beobachtet hatte, so zog sich auch hier die Flüssigkeit des Sees vor Eleanor zurück und ließ einen breiten Korridor in ihrem Umkreis frei um sich schließlich blubbernd und fauchend wieder hinter ihr zu schließen. Eleanor blickte nicht zurück, doch sie wusste, dass ihre Gefährten hinter ihr ebenfalls in den See hinabgestiegen waren und ihr nun dicht gedrängt folgten, sorgsam darauf bedacht, den senkrechten wabernden Lavamassen nicht zu nahe zu kommen.
Die Luft flimmerte vor Hitze und das rote Leuchten des Magmas
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