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Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Titel: Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Conrad
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dem sie sich nun befanden. Rechts und links öffneten sich plötzlich mehr und mehr Türen und graue Gesichter starrten sie ausdruckslos, gequält, zornig an. All jene, die in diesen Zimmern im Laufe der Jahre gestorben und für sündig befunden worden waren, blickten ihnen schweigend nach, unfähig ihnen zu folgen, unfähig zu handeln. Allein die widersprüchlichen und allzu oft gewalttätigen Emotionen, die von ihnen ausgingen, trieben die zwei voran. Weiter, immer weiter, in den nächsten Flur, um die nächste Ecke.
    Und dann hatten sie es plötzlich geschafft. Sie standen in einem Treppenhaus und hatten den Krankenbereich hinter sich gelassen. Hier gab es keine Geister und auch von den Akoloythoi war nichts zu sehen. Unter sich sahen sie im Erdgeschoss das flackernde orange Leuchten der brennenden Straßen. Dort musste der Eingangsbereich sein.
    Michael lehnte sich schwer atmend gegen eine Wand. Ihm war vollkommen bewusst, dass er an diesem Ort keinen Körper hatte und eigentlich nicht außer Atem sein konnte. Doch seine innere Anspannung und die seelische Erschöpfung waren so groß, dass er mit einem gewohnten Reflex reagiert hatte. Unwillkürlich begann er zu lachen. Ein hohles und fremdes Lachen war es, das den Treppenschacht ungehemmt empor hallte und Elizabeth sah ihn verängstigt an.
    „Michael!“, stieß sie hervor. „Michael, komm wieder zu dir!“
    Sein Gelächter erstarb und er blickte sie mit leerem Blick an.
    „Hier kommen wir nie wieder heraus“, flüsterte er. „Nie wieder. Wie sollen wir Eleanor denn finden? Die Hölle ist unendlich groß…“
    „Gib nicht auf!“, erwiderte Elizabeth. „Wir werden sie finden. Ich weiß es…“
    „Da weißt du mehr als ich… wir haben doch keine Chance… über kurz oder lang werden wir einem dieser Dämonen über den Weg laufen und das war’s dann für uns…“
    Seine Stimme erstarb und der leere Blick ging jetzt durch Elizabeth hindurch, als wäre sie gar nicht da. Einen Augenblick sah sie ihn wie erstarrt an, dann begann sie ihn zu schütteln.
    „Michael, hör auf so zu reden“, schrie sie. „Es ist diese Umgebung, die dich so reden lässt. Das macht die Hölle mit einem. Sie nimmt dir das letzte bisschen Hoffnung und lässt nur eine leere Hülle zurück. Du willst doch nicht so werden wie all die Toten hier, du willst doch nicht so werden wie Raphael!“
    Durch Michael ging ein Ruck. „Wie Raphael?“, hauchte er. „Was hat Raphael mit unserer Situation zu tun?“
    „Hast du es denn noch immer nicht begriffen?“, fuhr Elizabeth ihn an. „In all der Zeit bevor er Eleanor traf, saß Raphael hier genauso fest, wie es die Toten tun. Sicher, im Gegensatz zu ihnen konnte er in die Welt der Lebenden, aber er war viel zu schwach, dort etwas zu tun. Er konnte nur deshalb keine Menschen verderben, weil die Hölle ihn im Herzen festhielt. Deshalb hing er hier im Jenseits in seinem Toten Palast fest und war ebenso von Hoffnungslosigkeit und Depressionen zerfressen, wie du es jetzt bist.“
    Michael sah sie wie erstarrt an. Dann ging erneut ein Ruck durch ihn.
    „Du hast recht!“, stellte er betreten fest. „Ich will nicht so enden wie er, bevor er Eleanor traf.“
    „Dann lass uns endlich sehen, wie wir hier herauskommen. Es ist ohnehin ein Wunder, dass nach all dem Lärm, den wir gemacht haben, nicht längst ein Dämon auf uns aufmerksam geworden ist.“
    Sie nickten einander zu, dann begannen sie mit unsicheren Schritten gemeinsam die Treppen hinabzusteigen. Dem rot flackernden Licht der Straße entgegen.
     
    …
     
    Die Gruppe hatte das andere Ufer des Grenzflusses erreicht. Während William noch einmal alle Anwesenden durchzählte, sah Eleanor sich um. Noch immer starrte das riesige lidlose Auge bewegungslos aus dem Himmel auf sie hinab, während das gleißende Licht die Welt in ein unwirkliches Licht tauchte. Eleanor fühlte sich, als läge sie auf einem OP-Tisch.
    „Lasst uns gehen“, flüsterte sie mit einem ängstlichen Blick auf das Himmelsspektakel über ihren Köpfen. Wortlos folgte ihr die kleine Gruppe und sie ließen den schwarzen Fluss hinter sich. Sie hielten auf den Horizont zu, wenngleich sie die Richtung aufgrund der fehlenden Wolken und ihrer Bewegungen nur sehr ungefähr bestimmen konnten.
    Sie waren indes noch nicht weit gekommen, als ein Schrei von hinten Eleanor herumfahren ließ. Einer der Neuankömmlinge aus dem Lavasee hatte sich aus der Gruppe gelöst und lief nach rechts über die steinige Ebene auf einen Punkt

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