Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
Schmerzensschreie verfolgten sie noch ein gutes Stück des Weges und jedes Mal zuckte sie vor Schreck zusammen, wenn wieder einer dieser Laute an ihr Ohr drang. Immerhin hatte sie dort kein weiteres Mitglied ihrer Gruppe verloren. Vielleicht war dies zumindest ein kleiner Triumph…
Mit einem dumpfen Klatschen landete James zu Füßen des gefallenen Engels. Der Akoloythos, der ihn hierher gebracht hatte, kicherte böse, während er sich in die Schatten eines finsteren Säulenganges zurückzog, der aufgrund seiner ungewöhnlichen Ausmaße in diesem Toten Palast seltsam unpassend und fremdartig wirkte.
Langsam wandte der gefallene Engel sich um und blickte auf das kleine Häuflein Elend, das zitternd und bebend vor ihm kniete. Allein die schwere goldene Krone in den Händen des Mannes gab ihm ein letztes bisschen Halt und Kraft und so krallte er sich an ihr mit einer Vehemenz fest, als bestimme sie allein sein Leben.
„Was hattest du außerhalb jenes Ortes zu suchen, an dem du deine Strafe zu erleiden hast?“, fragte der Engel mit sanfter Stimme. Es schien undenkbar, dass er nicht der gütige Vater sein könnte, der zu sein er in diesem Augenblick vorgab.
Die Gedanken in James‘ Kopf überschlugen sich. Er saß in der Falle. Niemand würde ihm glauben, wenn er sagte, dass er aus eigener Kraft den Feuersee verlassen hatte. Über Eleanor zu sprechen aber würde die Aufmerksamkeit der gefallenen Engel auf sie und ihre Begleiter lenken. Dann wäre ihr die Ergreifung und Verdammnis sicher. Durfte James das zulassen?
Am ganzen Leib zitternd öffnete er den Mund, doch es bedurfte einer fast unmenschlichen Anstrengung zu sprechen.
„Herr, erleichtert ihr mir das Los in der Hölle, wenn ich euch etwas Wichtiges sagen kann?“, flüsterte er.
…
Raphael und Lilith flogen über eine tote Welt. Unter ihnen erstreckten sich die nebligen Weiten der Vorhölle und kein Auge hätte aus diesen Höhen dort ein Lebewesen ausmachen können. Doch Raphael benötigte an diesem Ort keine Augen. Er wusste genau, wo in den Abgründen unter ihm, den Ebenen, Bergen und Tälern Menschen hausten. Er sah ihre geschundenen und verängstigten Seelen als kleine flackernde Lichter ebenso deutlich unter sich glimmen, als würde er diesen Menschen gegenüberstehen.
Lilith hielt sich nah an seiner Seite und immer wieder sah sie verstohlen zu ihm hinüber. Zwischen ihnen hatte sich etwas verändert, doch noch immer wusste sie nicht zu sagen, ob es zum Guten oder zum Schlechten war. Vielleicht zum ersten Mal seit Tausenden von Jahren hatte sie ein schlechtes Gewissen. Konnte es richtig gewesen sein, Raphael an sich zu ziehen, da er Eleanor liebte? Auch wenn er für sie selbst ähnlich fühlte, so hatte Eleanor doch die älteren Rechte und sie empfand es plötzlich nicht als richtig, sich zwischen die beiden zu drängen. Und dennoch – sie liebte ihn. So sehr, dass sie alles dafür getan hätte, um ihn zu bekommen. Selbst in unmoralischer Weise um ihn zu kämpfen wäre in ihren Augen richtig gewesen. Auch dann, wenn in einem der hintersten Winkel ihrer Seele ein schlechtes Gefühl zurückbleiben würde.
Wieder blickte sie ihn von der Seite an. Was er in diesem Augenblick wohl fühlte? Dachte er ebenso wie sie, oder gingen seine Gedanken in eine völlig andere Richtung? Sie war verunsichert und doch zugleich vor Glück hin- und hergerissen durch den kurzen gemeinsamen Moment, den sie vorhin auf dem Friedhof von Stratton gehabt hatten. Das konnte er doch nicht beiseiteschieben, oder doch…?
Aber sein Blick ging starr geradeaus, nur hin und wieder sah er nach rechts oder links, wenn eines der kleinen Seelenlichter für einen kurzen Moment seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Er war auf der Suche und nichts anderes zählte jetzt für ihn. Er suchte Eleanor und Lilith konnte nichts anderes tun, als ihm zur Seite stehen. Plötzlich fühlte sie sich unendlich müde.
„Du bist zum ersten Mal hier, stimmt‘s?“, durchbrach seine Stimme plötzlich die unheimliche Stille.
Lilith zuckte zusammen. „Ja“, erwiderte sie schließlich. „Die Welt der Lebenden hat mich immer mehr angezogen, als die der Toten.“
Raphael lachte leise. „Das glaube ich dir.“
Verwirrt sah Lilith ihn an, doch sein Gesicht hatte keinerlei Anzeichen von Häme oder Spott gezeigt, während er gesprochen hatte.
„Du könntest jeden gefallenen Engel fragen…“, fuhr er fort. „…und ebenso jeden Menschen, den du im Laufe der Jahrtausende verfolgt,
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