Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
Entsetzen hinab in die kochende Masse. Lilith schrie vor Schreck auf. Dort unten schwammen Menschen inmitten der Lava. Sie schrien, wanden sich unter der Qual und hatten doch keinerlei Aussicht, aus diesem Höllenloch zu entkommen. Bei diesem Anblick lief es Lilith eiskalt den Rücken hinunter. Raphael neben ihr versuchte durch ein Rütteln mit seinen riesigen Schwingen seine Position zu halten und noch immer blickte er suchend auf das Chaos unter ihnen. Doch durch die Bewegungen ihrer Flügel brachten sie zugleich die zähe Lavamasse in Bewegung, so dass sich mehr und mehr Wellen durch den Krater bewegten, in denen die gefangenen Seelen vor Schmerz umso lauter schrien.
Doch dann, ganz plötzlich, fuhr Raphael hinab in die kochende Lava und griff zu. Lilith sah voll Schrecken, wie er einen zappelnden Menschen aus der Lava zog und ihn in weitem Bogen über den Feuersee ans nächstgelegene Ufer schleuderte. Ein lebender Mensch hätte den schrecklichen Aufprall nie überlebt, doch an diesem Ort hatten die Menschen keinen Leib, der hätte sterben können. Allein der Schmerz in ihren Seelen vermochte sie zu foltern.
Beinahe gemächlich flog Raphael ans Ufer hinüber und setzte sanft neben dem Menschen auf. Es war ein Mann, der im Leben die Fünfzig überschritten haben musste. Von kleiner Statur und doch feist, mit unruhig dahin huschenden Augen und hektischen Bewegungen. Jetzt jedoch weinte er, während er sich hastig die an ihm klebende Lava aus den rauchenden Kleidern klopfte. Es dauerte eine ganze Weile, bis er überhaupt wahrnahm, dass er nicht allein war. Als er die beiden leuchtenden Gestalten der Engel vor sich erkannte, warf er sich zu Boden und begann zu beten. Es war das Vaterunser, das er immer und immer wieder herunterspulte.
„Du hast sie gesehen!“, unterbrach Raphael ihn schließlich.
Der Mann hielt inne und sah verwundert hoch.
„Sie gesehen?“, fragte er verständnislos. „Wen gesehen?“
„Ein junges Mädchen. Sie war hier! Ich habe es in deinen Gedanken gesehen.“
Der Mann zögerte, dann nickte er vorsichtig.
„Sag mir, was geschehen ist“, sprach Raphael nun sanft auf ihn ein. „Dann werde ich dich nicht zurück in den Feuersee werfen!“
Ängstlich sah der Mann an Raphael vorbei zum lodernden See, aus dem das Geschrei abertausender Seelen klang.
„Sie war plötzlich im See…“, stotterte er schließlich. „Sie ging mitten hindurch und das Feuer wich vor ihr zurück. Und sie war nicht allein. Da waren noch mehr bei ihr. Aber es gelang mir nicht, zu ihr zu kommen. Andere in ihrer Nähe haben das Feuer verlassen können, aber ich nicht. Es hielt mich fest…“
Raphael richtete sich auf und sah Lilith an.
„Was denkst du?“, fragte er. Den Mann zu seinen Füßen nahm er nicht länger wahr.
„Es scheint fast, als sammelte sie Seelen!“, erwiderte Lilith spöttisch, doch Raphael versteifte sich bei diesen Worten.
„Seelen? Was sollte sie mit Seelen? Sie ist nicht Teil des Kampfes zwischen Gut und Böse…“
„Ist sie nicht?“, erwiderte Lilith amüsiert. „Bislang waren es die gefallenen Engel, die böse Menschenseelen gesammelt haben, während Menschen wie Jesus nach den guten fischten. Aber Eleanor hat damit begonnen, die Seelen von Engeln zu sammeln. Mehr als ein Drittel hat sie schon, selbst deine Seele gehört ihr bereits.“ Bei diesen Worten verfinsterte sich Liliths Gesichtsausdruck. „Wer sagt dir denn, dass sie nicht noch größere Ziele hat?“
„Wie meinst du das?“, hauchte Raphael, doch Lilith antwortete nicht. Sie sah ihn herausfordernd an und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du täuscht dich in ihr!“, zischte er. „Sie würde niemals…“
Dann brach er ab und starrte sie mit geballten Fäusten zornig an. Eine Weile maßen sie sich gegenseitig mit Blicken, er voll Wut, sie spöttisch und trotzig. Lilith genoss es, eine solch starke Reaktion bei ihm hervorrufen zu können. Wenn er schon keine Liebe für sie empfand, dann eben irgendein anderes starkes Gefühl. Irgendetwas, wodurch er sie wahrnahm. Und doch – ein positives Gefühl wäre ihr in diesem Moment unendlich lieber gewesen. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass sie für ein Lächeln vom ihm gestorben wäre. Schließlich senkte sie den Blick.
„Verzeih“, flüsterte sie. Einen kurzen Augenblick lang war es ganz still. Selbst das Schreien der gequälten Seelen im See schien verstummt zu sein. Dann hörte sie seine Stimme.
„Lass uns weitersuchen.“
Wortlos breitete
Weitere Kostenlose Bücher