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Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Titel: Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Conrad
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sie ihre Flügel aus und folgte ihm, während er vor ihr her über den Flammensee flog und die Richtung zum siebenten Kreis einschlug. Jenen Mann, den Raphael aus dem Feuer gezogen hatte, ließen sie zurück.
     
    …
     
    Michael und Elizabeth starrten wie hypnotisiert auf Nargal, die ihre Blicke mit einem Ausdruck aus Neugier und Grausamkeit erwiderte. Michael konnte sich nicht helfen, doch er fühlte sich an eine Katze erinnert, die eine Maus entdeckt hat und sich nun voller Vorfreude auf einen kurzweiligen Zeitvertreib ihrer Beute nähert, während der Maus selbst jede Fluchtmöglichkeit versperrt ist. Unwillkürlich ballte er die Fäuste – er wollte keine Maus sein, keine Beute, die sich ihrem Schicksal ergeben muss.
    Nargal bemerkte diese Geste und kräuselte amüsiert die Lippen.
    „Ich habe nicht vor, euch beiden zu schaden, Michael“, sagte sie und ihr Gesichtsausdruck wurde schlagartig sanfter. „Es ist so lange her, dass ich mit jemandem gesprochen habe…“
    „Hast du keinen Kontakt mit deinesgleichen?“, fragte Elizabeth unerwartet unbefangen. Michael zuckte innerlich zusammen. Noch immer war er sich nicht sicher, wie Nargal auf ein vermeintlich falsches Wort reagieren würde. Doch stattdessen schüttelte der Engel nur traurig den Kopf.
    „Nein. Ich habe schon seit Jahrhunderten keinen anderen von meiner Art mehr gesehen. Ich lebe in diesem Haus, weil auch mein Körper hier ist, drüben in eurer Welt. Ich gehe nur selten hinaus. Meistens, um Akoloythoi zu töten. Ihr Gekreisch hallt hunderte von Metern weit und ich ertrage es nicht. Mittlerweile aber wagen sie sich nur noch selten in die Nähe dieses Hauses, denn sie wissen um das Verderben, das hier haust. Es war höchst ungewöhnlich, dass sie euch heute so weit gefolgt sind.“
    Eine Weile wagten weder Elizabeth noch Michael etwas zu sagen. Dann jedoch räusperte sich Michael.
    „Du hast gesagt, du hasst uns Menschen…“
    „Natürlich. Ihr seid Schuld daran, dass ich nicht mehr im Himmel sein kann.“
    Nargal sagte diese Worte in einer merkwürdigen Offenheit und so vollkommen ohne Vorwurf in der Stimme, dass Michael und Elizabeth sich fragten, ob sie richtig gehört hatten. Ihre Stimme hatte geradezu freundlich geklungen und wollte so gar nicht zu den Worten passen, die sie gerade gehört hatten. Verwirrt sahen sie sie an.
    „Ihr erwartet, dass ich euch töte, richtig?“, sagte Nargal. Plötzlich klang sie traurig und kraftlos. „Was hätte ich davon? Eure Seelen würden die Hölle verlassen und an einen besseren Ort gehen. Würde ich euer Verderben wünschen, wäre es besser, euch unbehelligt zu lassen und euch zugleich den Weg zu versperren, durch den ihr hierher gefunden habt. Das wäre eine Strafe!“
    Nargal zögerte kurz. Dann formten ihre Lippen ein kleines Lächeln. „Aber nur weil ich die Menschen hasse, bedeutet das nicht, dass ich an eurem Untergang Gefallen fände…“
    „Nicht?“, fragte Elizabeth. Sie war nun ebenso wie Michael vollkommen verwirrt. Nargal war in jeder Beziehung so rätselhaft, dass sie völlig undurchschaubar war. Ein Teil von ihr wirkte so sanft und zerbrechlich, während ein anderer grausam und impulsiv war. Für Michael war sie trotz ihrer kleinen Statur so furchteinflößend wie kein anderer Engel, den er bisher getroffen hatte.
    „Nein“, erwiderte Nargal. „Ich hatte meine Zeit, in der ich Menschen verfolgt habe. Mein Zorn auf sie war so groß, dass ich ungeheure Kriege angezettelt habe, indem ich die Sünde in ihre Herzen gab. Millionen von Menschen sind durch meine Taten zugrunde gegangen. Millionen von Seelen, die der Hölle überantwortet wurden, weil sie getötet, gefoltert, Unrecht begangen haben. Während die anderen gefallenen Engel die Seelen der Menschen zu einfachen Sünden verleitet haben, erkannte ich, dass nichts so effektiv ist, wie der Krieg. Indem ich die Fürsten und Anfü hrer der Menschen zum Hass auf Ihresgleichen anstachelte und Kriege entfachte, vervielfältigten sich meine Taten ganz wie von selbst. Es war nicht allein der Kriegsherr, der durch seine Taten der Hölle anheimfiel. Nein – er befahl seinen Kriegern das Töten und ersparte mir dadurch, diese Seelen selbst heimzusuchen. Wie bei einer Lawine wurde aus einer kleinen Tat durch mich ein ungeheures Etwas, welches sich den Weg durch die Welt der Menschen suchte und dabei alles mitriss, was keine festen Wurzeln hatte.“
    Nargals Stimme brach und erlosch. Eine Weile war es ganz still im Zimmer des Geisterhauses.

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