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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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lange stand. Die Opfer schreien vor Schmerzen. Sie schwören ihrem Glauben an den falschen Sohn ab und nehmen den wahren Glauben Allahs an. Das wirst du schreiben.«
    »Ich verstehe nicht, warum ich solche Dinge schreiben soll.«
    Der raïs lachte. »Euer Leben und eure Seele sind nicht in Gefahr, warum sollten deine Landsleute zahlen?«
    »Sie werden nicht zahlen.« Unwillkürlich reckte Cat das Kinn. Sie war wütend - über den Betrug, die Grausamkeit und darüber, dass er die Situation bewusst auskostete.
    Gleichmütig beobachtete er, wie sie vor Zorn errötete. Am Ende zuckte er mit den Schultern. »Dann werdet ihr in Marokko leben und sterben.«
     
    Unglücklicherweise hatte der Brief seinen Erwartungen entsprochen. Die beiden Männer, die sie aus der mazmorra geholt hatten, kamen wieder; widerstandslos folgte sie ihnen. An diesem Tag hatte Catherine Anne Tregenna etwas verloren. Man hatte ihr einen flüchtigen Blick auf das Paradies gewährt und es dann wieder verschwinden lassen, wie durch einen Zaubertrick.
Jetzt stürzte ihre Seele in eine noch größere Finsternis. An der Tür nahmen die Männer ihr das schwarze Gewand wieder ab, obwohl es ihrer Stimmung entsprach, und stießen sie zurück in die Hölle.
    »Der Türke hat wohl schon genug von dir, was?«, rief ein Mann. Sie konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen.
    »Bestimmt hat er jede Menge Auswahl an Weibern.«
    »Cat ist keine Hure, Jack Fellowes. Mögest du für deine Worte in der Hölle schmoren.«
    Einen Augenblick glaubte Cat, es wäre ihre Mutter, die ihre Ehre verteidigt hatte, doch ihre Mutter hätte nie die Abkürzung ihres Namens benutzt. Es war eine andere Frau gewesen. Die Empörung in ihrer Stimme zerriss Cat das Herz. Matty, die liebevolle, treue, dumme Matty, immer noch auf trotzige Art so lebendig und gesund, dass es ihr nicht gleichgültig war, was man über ihre Freundin sagte.
    Cat brach in bittere Tränen aus, zum ersten Mal, seit sie gefangen waren, und bald mischte sich eine Stimme nach der anderen ein. Manche versuchten, zu beschwichtigen, andere waren höhnisch und derb. Sie saß zusammengekauert da, wiegte sich vor und zurück und hielt sich die Ohren zu, um sie vor dem Lärm zu verschließen. Mit jeder Faser ihres Willens rief sie sich die Einzelheiten des duftenden Innenhofs und die kühle Ruhe des Hauses ins Gedächtnis zurück. Die Rosenblätter im Becken, die Mosaikfliesen in strahlenden Mustern von Blau, Weiß und Gold, die leuchtenden Früchte am Orangenbaum, das gitterartige Spalier, die Fülle der süß duftenden Blumen und die kleinen hin und her hüpfenden Vögel; die Decke aus Zedernholz im Zimmer des raïs, die dicken Webteppiche und holzgeschnitzten Möbel, das aufwändige Kostüm des kleinen schwarzen Jungen, sein krauses Haar, der feine Stoff des Gewands, das der raïs trug, und der Glanz seiner Augen im Halbdunkel … Eine Sekunde lang fragte eine Stimme in ihrem Hinterkopf: Warum versuchst du nicht, dir die Einzelheiten deines Lebens in Cornwall ins
Gedächtnis zu rufen, um dich zu trösten? Insgeheim antwortete sie darauf, dass die Erinnerung nicht mehr lebendig genug sei, um darin Trost zu finden, aber noch während sie es dachte, wusste sie, dass es eine Lüge war.
    Am nächsten Tag kamen zwei Wärter mit der patrona zu ihrem Gefängnis. Zum ersten Mal wurden die Gefangenen nach Männern und Frauen getrennt, wobei die Kinder den Müttern oder nächsten Verwandten zugeteilt wurden. Die Frauen und Kinder nahmen sie zuerst mit. Und so stolperten sie hinaus auf die Straße, wo sie die Augen vor der blendenden Sonne zukneifen mussten. Vorsichtig, um die Haut der Ungläubigen nicht zu berühren, legten die Wärter ihnen Fußfesseln aus kaltem Eisen an, ketteten sie aneinander und trieben sie wie eine Ziegenherde zum Markt.
    Cat ging in der Schlange hinter Nan Tippet. Die Witwe war ohnehin klein, und da sie auch noch den Kopf gesenkt hielt, hatte Cat einen ungehinderten Blick auf das alte Salé. Es war kaum zu glauben, dass sie erst einen Tag zuvor hier gewesen war, denn sie erkannte nichts wieder. Der ungewohnte Schleier hatte sie behindert, und außerdem hatte sie in ihrer Benommenheit nichts von der Umgebung aufnehmen können. Nun aber war es, als buhlte die Stadt um ihre Aufmerksamkeit, als hielte sie Cat ihre Fremdheit entgegen wie eine Zigeunerin ein Tamburin. Die Straßen, durch die sie gingen, wimmelten von Menschen - Männer zogen knochige Esel, deren Rücken unter den Lasten gebeugt waren,

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