Die Zehnte Gabe: Roman
sagte, er hätte Ihnen eine Nachricht im Zimmer hinterlassen.«
»In meinem -!«
»Tut mir leid, hätte ich ihn nicht hineinlassen sollen?«
»Nein, nein, alles in Ordnung.« Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht. »Vielen Dank.« Ich wandte mich um, voller Angst vor Idriss’ Ausdruck, doch das Gesicht meines Führers war unergründlich. Ich schaffte es gerade noch, mich für den schönen Tag zu bedanken, dann rannte ich los.
Mein Zimmer sah aus, als wäre dort eine Bombe eingeschlagen. In meiner Londoner Wohnung hatte Michael noch einigermaßen darauf geachtet, seine Spuren zu verwischen, hier aber schien ihm alles egal gewesen zu sein. Die Bettwäsche lag zusammengeknüllt auf dem Boden; meine Koffer waren mitten im Zimmer ausgekippt worden, die Türen des Schranks standen offen, meine Kleider hatte er einfach durchs Zimmer geworfen. Selbst die Toilettenartikel im Badezimmer lagen überall verstreut, und die Handtücher stapelten sich auf dem Badewannenrand.
Ich drückte meine Handtasche an mich. Eigentlich hatte ich den Stolz der Stickerin im riad zurücklassen wollen, als ich an diesem Morgen aufgebrochen war, doch dann hatte ich es irgendwie nicht übers Herz gebracht, mich von dem Büchlein zu trennen. Vielleicht war ein sechster Sinn am Werk gewesen, oder Catherine selbst hatte mein Handeln beeinflusst.
Im Zentrum des Chaos, auf dem Bett, lag ein Umschlag. Sehr symbolisch, dachte ich mit klopfendem Herzen.
Mein Name war in Michaels entsetzlicher Sauklaue daraufgekritzelt; es konnte also kein Versehen sein. Er war mir bis nach Marokko, bis in dieses Zimmer gefolgt. Zitternd öffnete ich den Umschlag. Mehrere Papiere steckten in einem zusammengefalteten Blatt darin. Auf dem obersten stand:
Ich muss Dich sehen (vgl. Anlage)
Bin um sechs zurück.
M
Das zweite Blatt war die Fotokopie eines ziemlich alt wirkenden Briefes. Ich überflog nur den Anfang und entzifferte Folgendes:
An Sir Arthur Harris von seinem Diener Robert Bolitho, am heutigen 15. Tag des Oktober, anno 1625.
Sir, dies schreibe ich im Kontor der Herren Hardwicke & Buckle, Reederei der Türkischen Gesellschaft, Cheapside, London …
Plötzlich war die Luft im Zimmer erstickend. Mein Herz trommelte wie wild, als ich den Brief und Michaels Nachricht wieder eng zusammenfaltete und in Catherines Buch legte. Dieses wiederum verstaute ich tief in meiner Handtasche. Dann stopfte ich in einem Anflug von Panik all meine Sachen in den Koffer und die Reisetasche und schleppte beides hinaus in den Innenhof. Trotz meiner Müdigkeit, trotz der Bequemlichkeit, Eleganz und Schönheit des riads konnte ich hier nicht bleiben.
»Laufen Sie weg?«, fragte Idriss, der mit einer Zigarette in der Hand an einem Tisch saß. Der Rauch kräuselte sich zu den Rosen über seinem Kopf empor. Seine dunklen Augen beobachteten mich neugierig. »Ich dachte, Sie könnten vielleicht Hilfe gebrauchen.«
»Was für eine Art von Hilfe?«
»Nun, Sie haben gesagt, Sie wären nie verheiratet gewesen … und jetzt taucht hier ein angeblicher Ehemann auf, und Sie werden so blass wie der Mond. Vielleicht sollte ich Ihnen meine Dienste anbieten.« Er betrachtete meine Taschen. »Und wenn auch nur als Träger.«
»Ich muss irgendwo Unterschlupf finden, nur für eine Nacht«, sagte ich rasch, aber noch während ich es sagte, wusste ich, dass ich tatsächlich genau das brauchte: eine Zuflucht, in der ich mich vor Michael verstecken konnte. »Können Sie mir ein gutes Hotel empfehlen? Ich möchte Naima nicht enttäuschen,
und natürlich bezahle ich alles, was ich ihr schuldig bin, aber ich kann unmöglich hierbleiben.«
Idriss drückte seine halb gerauchte Zigarette aus. »Warten Sie, ich nehme Ihr Gepäck. Und mit Naima rede ich auch, machen Sie sich keine Sorgen.«
Wenige Minuten später saß ich auf dem Rücksitz eines kleinen blauen Peugeots mit einem Taxischild auf dem Dach. Die Amulette und Plaketten am Rückspiegel schwangen heftig hin und her, als die altersschwache Aufhängung unter dem Gewicht meines Gepäcks ächzte.
»Wo fahren wir hin?« Ich war allein in Afrika. Nun, da ich das riad verlassen hatte, würde mich niemand mehr vermissen, falls ich verschwinden sollte. Konnte ich Idriss trauen? Ich erinnerte mich, wie nervös er mich an diesem Nachmittag gemacht hatte, und spürte, dass der Zweifel an mir nagte wie eine beharrliche Ratte.
»Ich bringe Sie zu mir«, sagte er, ohne sich umzuwenden.
Was die Sache keineswegs besser
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