Die Zehnte Gabe: Roman
direkt ins befestigte Zentrum der Stadt. Euer Robinson Crusoe wurde durch dieses Tor gebracht. ›Das Erste war, dass uns, als wir zwischen den kanarischen Inseln und der afrikanischen Küste segelten, in der Morgendämmerung ein türkischer Korsar aus Saleh überraschte.‹«, zitierte er plötzlich.
Ich starrte ihn an.
»Ich habe vier Jahre Englisch im Hauptfach studiert. Einer der ausländischen Dozenten war ein Defoe-Liebhaber. Ich habe alles gelesen - Die Pest zu London, Moll Flanders, Roxana.«
Was, um Himmels willen, würde ein Mann aus einer moslemischen Kultur von einer derben, ausgelassenen Dirne wie Molly Flanders halten? Ich konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen. »Sie sind belesener als ich«, sagte ich lachend, wenn auch ein wenig unbehaglich, denn allmählich hatte ich den Verdacht, dass es sogar stimmte. »Aber sagen Sie mir eins: Wie kommt es, dass Sie diesen leichten amerikanischem Akzent haben?«
Seine Hand fuhr zum Mund. »Wirklich?« Er dachte für den Bruchteil einer Sekunde zu lang nach. »Ich habe bei Amerikanern gelernt, vermutlich deshalb.«
»Ihr Lehrer scheint einen tiefen Eindruck gemacht zu haben.«
»Es war eine Sie.« Er wandte sich ab und ging so rasch die Straße entlang Richtung Stadtzentrum, dass ich rennen musste, um ihn einzuholen.
»Also, Idriss, was machen Sie? Was tun Sie, wenn Sie nicht gerade Touristen die Sehenswürdigkeiten zeigen? Lehren Sie jetzt selbst an der Uni?«
»Ich bin Taxifahrer.«
»Oh.« Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Das Haus seiner Cousine war feudal, und er hatte unverkennbar eine gute Ausbildung erhalten. Taxifahren ist ein nobler und respektabler Beruf, trotzdem war ich überrascht.
»Und Sie?«
Ich lachte. »Gute Frage. Im Augenblick tue ich gar nichts.«
»Sie sind also nicht verheiratet, Sie haben keine feste Anstellung und keine Kinder, nein?«
»Nein. Keine Kinder.«
»Und was wäre, wenn Sie in den Gassen einer obskuren marokkanischen Stadt verschwänden, Julia Lovat, würde Sie niemand vermissen?« Er drehte sich um und musterte mich, und da die Sonne hinter ihm stand, konnte ich nur das Glitzern seiner Augen sehen.
Er hatte einen wunden Punkt berührt: Wer würde mich tatsächlich vermissen? Ein paar Freunde, irgendwann. Michael, ja, aber nur weil er das Buch haben wollte. Alison, bestimmt …
Ich starrte ihn an und war plötzlich zu Tode erschrocken. »Ich möchte jetzt zurück. Ich bin sehr müde.«
Er wirkte verwirrt. »Natürlich«, sagte er.
Es war später Nachmittag, als wir zum riad zurückkehrten, und ich war tatsächlich erschöpft. Meine Füße taten weh, mein Rücken schmerzte, und mein Kopf quoll über vor Bildern und Informationen. Den ganzen Weg vom alten Salé bis zur Medina
von Rabat hielt mich die Aussicht auf ein ausgiebiges, köstlich duftendes Bad aufrecht, das mich in meinem luxuriösen riad erwartete.
Doch als wir eintraten, fing uns Naima Rachidi ab. Sie sprach eine Weile sehr schnell auf ihren sichtlich erschütterten Cousin ein, wandte sich dann zu mir und sagte auf Englisch:
»Ihr Mann war hier, um Sie zu suchen.«
»Mein … Mann?«
»Ja. Ich habe ihm gesagt, dass Sie in Begleitung eines Führers die Stadt besichtigen und erst abends zurückkämen, woraufhin er sagte, er würde einen Spaziergang machen und später wiederkommen.«
Ich spürte, wie meine Augen sich vor Verwunderung weiteten. »Ah … danke. Wie … wie sah er aus?«
Sie runzelte die Stirn. »Wie er aussah? Müde, ein bisschen gereizt, obwohl er sehr höflich war.«
»Ich meine, sind Sie sicher, dass er mein … Mann war? Könnten Sie ihn beschreiben? Vielleicht handelt es sich um einen Irrtum.«
»Etwa fünfzig, mittleren Alters. Größer als Sie, aber nicht so groß wie Idriss, dunkles Haar - wie heißt es bei Ihnen - kahl, hier.« Sie berührte ihre Schläfen. »Dunkle Augen, nicht besonders kräftig. Etwas rundlich hier -« Sie deutete auf ihren Bauch.
Naima Rachidi war eine sehr aufmerksame Beobachterin, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob Michael ihre Beschreibung gefallen hätte, insbesondere die signifikante Überschätzung seines Alters oder der scharfe Blick für die Anfänge eines Rettungsrings. Das Gefühl der Benommenheit überrollte mich wieder, zusammen mit einem fürchterlichen Schwindel. Ich holte tief Luft. »Hat er gesagt, wann er zurück sein will?« Ich spürte Idriss’ finsteren Blick hinter mir, als wäre die Luft aufgeladen.
Naima schüttelte den Kopf. »Nein, aber er
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