Die Zehnte Gabe: Roman
An der Schwelle war er stehen geblieben, als könnte ein Hauch von ihr noch da sein, als könnte er eine gespenstische Erscheinung überraschen, bevor sie Zeit hatte, wieder zu verschwinden. Als er dann eingetreten war, hatte er das starke Gefühl gehabt, in eine Sphäre einzutauchen, die noch immer von ihr erfüllt war; er hatte Cat beinahe riechen können, ihren feinen Duft nach Moschus und Rosen. Es war nicht schwer gewesen, das halb fertige Altartuch unter dem Bett zu finden; hier hatte er zuallererst nachgeschaut. Er hatte es unter seinem Hemd versteckt und seine Berührung auf der Haut gespürt, als er losritt, bis ihm einfiel, dass sein Schweiß Flecken hinterlassen könnte. Es war ein heiliges Objekt, sowohl von seiner Bestimmung her als auch in seiner Vorstellung. Er durfte es nicht verderben.
Nun betrachtete er die Arbeit, die Cat heimlich in der Ungestörtheit ihrer Dachstube bei Kerzenlicht begonnen hatte, und erinnerte sich an ihren gemeinsamen Besuch auf Castle an Dinas zu Beginn des Sommers, als sie den Wunsch geäußert hatte, der Stickerzunft beizutreten, und er versucht hatte, ihr ihren übertriebenen Ehrgeiz auszureden.
»Der Entwurf ist vorzüglich, geradezu visionär.« Catherine Howard strich über die Schlange, die sich um den Baumstamm wand, berührte mit dem Finger das Gold von Evas Haar und das Rot des Apfels.
»Es ist Catherines Entwurf.«
Die Gräfin sah verwundert zu ihm auf. »Von ihr selbst? Ich glaubte, Margaret und ich hätten vereinbart, dass ich meinen eigenen Mann schicke, um den Entwurf vorzustanzen, damit die junge Dame ihn nachsticken kann. Ich muss zugeben, dass ich
etwas in Verzug geraten bin, aber ich hatte so viel mit den Kindern zu tun, der Verwaltung des Hauses …« Ihre Stimme verebbte, als sie sich erneut in den Einzelheiten der Stickerei verlor. »Doch Christopher wäre nie etwas so Lebendiges eingefallen! Es ist wirklich wunderbar.« Sie zögerte. »Warum hast du es mir unvollständig gebracht?«
Rob schluckte. »Catherine wurde von den Piraten entführt. Man hat sie gezwungen, ihre Lösegeldforderung niederzuschreiben. Sie verlangen achthundert Pfund für ihre Freilassung.«
Catherine Howard lachte hell auf. »Achthundert Pfund? Für eine Dienstmagd? Selbst für ein Mädchen, das so zu sticken versteht wie sie, ist das eine unglaubliche Forderung. Ist dir klar, dass man für knapp tausend eine Ritterschaft kaufen kann?«
Er senkte den Kopf. »Ich habe geschworen, sie zu befreien.« Die Gräfin lächelte nachsichtig. »Du bist ein netter Junge. Wie viel hast du bis jetzt zusammen?«
»So gut wie nichts, Ma’am, obwohl ich mich so lange umsonst verdingen würde, bis ich meine Schulden abbezahlt hätte. Cornwall ist eine arme Grafschaft, und Cats Familie wurde mit ihr zusammen entführt.«
Sie seufzte. »Ein solch treues Herz ist ein Vermögen wert. Ach, schlüge doch ein solches auch für mich. Doch all das -«, sie deutete auf das luxuriöse Gemach, ihr Kleid, den Schmuck, »- all das ist nur Schein. Das Schloss hier gehört nicht uns, sondern dem Bischof von Durham. Wir bewohnen nur diesen Flügel. Mein Mann würde mich umbringen, wenn er mich reden hörte, aber unsere Schulden sind in der Tat gewaltig. Als Williams Vater starb, hinterließ er mehr als dreißigtausend Pfund Schulden, und was meine eigene Familie angeht …« Sie breitete die Hände aus. »Es wäre wirklich reizend, wenn du herkommen und in irgendeiner Funktion für uns tätig sein könntest, um das Lösegeld für deine Catherine zu verdienen, aber du siehst ja, wie es ist.«
Rob sah, wie es war, und verlor den Mut.
»Lass mir das Altartuch hier«, gurrte sie. »Ich werde jemanden beauftragen, es für unsere Kirche in Framlingham fertig zu stellen.«
»Das kann ich nicht«, sagte Robert leise. »Es ist alles, was ich von ihr habe.«
Die Gräfin verzog den Mund. »Warte hier.« Sie eilte hinaus und kam wenige Minuten später mit einem Lederbeutel wieder. »Hier«, sagte sie und drückte ihn Rob in die Hand. »Es wird nicht reichen, um deine Catherine freizukaufen, aber vielleicht hilft es auf andere Weise und ist, wie mir scheint, ein fairer Lohn für das, was sie bisher getan hat. Mein Mann ist wahrscheinlich zu betrunken, um zu merken, dass das Geld fehlt. Wenn doch, werde ich ihn daran erinnern, dass es so viel ist wie die Summe, die er gestern Abend beim Kartenspielen verloren hat.«
Der Lederbeutel enthielt fast fünfzig Pfund in Goldmünzen. Unter einer Kastanie, die gerade
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