Die Zehnte Gabe: Roman
ihr erstes Laub abwarf, zählte Rob sie mit klopfendem Herzen. Er war traurig, dass er Cats Stickerei weggegeben hatte, doch die Berührung ihrer Hand war ihm mehr wert als etwas zu besitzen, das sie berührt hatte, und sei es noch so schön. Er verstaute das Gold sorgfältig und dankte Gott für seine unerforschlichen Wege. Dann machte er sich an seinen nächsten Auftrag: Sir Marten zu finden, um das zweite Empfehlungsschreiben und die Bittschrift der Leute von Penzance zu übergeben. »Geh zu seinem Stadthaus in Westminster«, hatte Sir Arthur ihm geraten und die Adresse aufgeschrieben. »Er hat schroffe Manieren und keine Geduld mit Holzköpfen, also schärfe deinen Verstand und hüte deine Zunge. Er kann ein wenig anstrengend sein, aber wir brauchen seine Hilfe.«
Nach der Pracht von Salisbury House war Rob kaum auf das Elend rings um die Machtzentrale des Landes vorbereitet. Die Straßen von Westminster waren schmutzig und stanken nach
Sumpfgas und menschlichen Exkrementen. Flämische Händler priesen mit lauter Stimme und starkem Akzent ihre Waren an, Betrunkene standen an die Wände gelehnt und hielten sich an ihren Bechern mit gepfeffertem Bier fest oder übergaben sich in die ohnehin mit Unrat verstopften Gossen. Garküchen verkauften Fleischpasteten, Schweinshaxen, Walfischzungen und gegrillte Rinderohren. Rob war froh, dass er an seiner üblichen schlichten Kost festgehalten hatte, einem kleinen frischen Brotlaib und einem Stück salzigen Käse, die er auf dem Weg durch die Long Acre gegessen hatte.
Er kam an dem gewaltigen Turm von St. Stephen’s vorbei, wo das Parlament zusammentrat, wenn es tagte, und am königlichen Palast von Westminster, in dem auch der Justizpalast untergebracht war. Beim Anblick des massiven dunklen Gemäuers verspürte er dasselbe ekstatische Grauen wie damals, als Jack Kellynch und er mit einem Skiff von Gurnad’s Head unter den abweisenden Klippen aus grünem Kalkstein entlanggesegelt waren und sich vorgestellt hatten, wie sie an den gischtgepeitschten Felsen unter der Oberfläche zerschellten. Das Gebäude wirkte feindselig, seine Dimensionen waren zu groß, zu imposant, um irgendetwas mit Rob zu tun zu haben. Er trat aus dem Schatten und blieb andächtig eine Weile unter der nördlichen Fassade der großen Abbey stehen, um die Bogen, Pfeiler und gotischen Zinnen, die wie Juwelen blitzenden Glasfenster und fein gemeißelten Figuren zu bestaunen. Überwältigt von so viel Pracht, hatte er plötzlich das Gefühl, als öffnete sich etwas in seinem Kopf, wie eine Blüte, die unter einem unerwarteten Sonnenstrahl aufgeht. Einen Moment lang glaubte er, den Mut zum Eintreten aufzubringen, aber am Ende wagte er es doch nicht. So viel Schönheit war zu viel für einen einfachen Mann wie ihn. Außerdem folgte ihm bereits ein Kerl mit einem pockennarbigen Gesicht und verschlagenem Blick, der ihn gefragt hatte, ob er mit zu ihm nach Hause kommen wolle. Da war ihm bewusst geworden, dass er wie ein Dorftrottel aussehen musste,
wenn er mit offenem Mund und glasigen Augen da stand, eine jämmerlich leichte Beute, selbst für einen unerfahrenen Straßenräuber oder Taschendieb. Tatsächlich hatten ihn viele zwielichtige Gestalten in den schmalen Gassen rings um die Abbey beäugt, dann aber wohl entschieden, dass er nichts bei sich hatte, das die Mühe lohnte: ein Witz, über den er grinsen könnte, hätten sie ihn nicht so nervös gemacht. Zum Glück hatte er die Pferde vorübergehend in einem Stall von Seven Dials unterbringen können. Der Beutel mit dem Gold wog schwer an seiner Hüfte, und er war froh, ihn vernünftig eingepackt zu haben, sodass die Münzen beim Gehen nicht klimperten.
Sir Henry Martens Haus lag am Broad Sanctuary, und zu Robs großem Glück war er auch zuhause, allerdings nicht gerade bester Laune.
»Und was glaubt er, soll ich jetzt tun?«, schimpfte er, nachdem er Sir Arthur Harris’ Brief überflogen hatte.
Rob, der nicht aufgefordert worden war, sich hinzusetzen, ballte die Fäuste. »Ich glaube, er hätte gern, dass Ihr das Thema bei anderen führenden Persönlichkeiten anschneidet, Sir, Euch für Cornwalls Interessen einsetzt und dem Staatsrat eine Petition vorlegt, auf dass wir Mittel erhalten, um unsere Gefangenen freizukaufen.«
»Freizukaufen? Von wem?«
»Von den Angreifern, Sir, den Freibeutern von Sallee, die sie entführt haben.«
»Die Freibeuter von Sallee sind eine Bande von Verbrechern, und mit Piraten wird weder verhandelt noch eine
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