Die Zehnte Gabe: Roman
stellen
dasselbe her, wieder und wieder. Das ist langweilig und nicht besonders originell. Nach Sidi Qasems Meinung soll das neue Salé dem alten Fez zeigen, dass es seine Sache besser macht, indem es europäische Technik mit marokkanischer Handwerkskunst vereint. Du sollst uns das neue Gewerbe ermöglichen. Diese Frauen sind nur ein Anfang. Du wirst sie unterrichten, und dann werden auch sie ma’allema und geben an andere weiter, was sie von dir gelernt haben. Wenn du Erfolg hast, bist du so etwas wie ein Zunftmeister: Sidi Qasem wird reich, und du auch.«
Cat schwanden die Sinne. In Cornwall hatte sie gegen die Beschränkungen gewütet, die sie einengten wie eine große unüberwindliche Mauer. Mit ihrer Arbeit an dem Altartuch hatte sie das Gefühl gehabt, drei oder vier Sprossen einer riesigen Leiter erklommen zu haben, die es ihr am Ende ermöglichen würden, über die Mauer zu spähen. Hier hatte sie ein einziger Satz ganz nach oben katapultiert. Doch statt auf eine goldene Zukunft zu blicken, stand sie vor einer riesigen, weiten Leere.
»Und wenn ich versage?«, fragte sie. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet.
Leila zuckte mit den Schultern. »Darüber denkst du lieber nicht nach.«
Cat berührte ihre Kehle. Es fühlte sich an, als flatterte ihr Herz dort wie ein gefangener Vogel. Welche Wahl hatte sie? Sie musste ihr Schicksal in die Hand nehmen und ihre Angst überwinden. Vielleicht würde sie etwas Außergewöhnliches erreichen. Vielleicht fand sie hier das Leben, nach dem sie sich immer gesehnt hatte, selbst wenn es auf einem anderen Kontinent war, unter Fremden. Sie straffte die Schultern. »Dann fangen wir am besten mit den elementaren Dingen an. Wenn die Damen mir zeigen, welche Sticktechniken sie bislang beherrschen, könnten wir damit beginnen. Und morgen könnten sie vielleicht jeweils ein Beispiel mitbringen, das sie schon angefertigt haben, oder etwas, was es in ihrer Familie gibt, sodass ich mir ein besseres Bild von dem hiesigen Stil machen kann. Aber
ich muss auch etwas davon sehen, was in … wie war der Name der Stadt, Fez?«
»Ich bin überzeugt, dass sich all das machen lässt. Aber eine ma‘allema sitzt nicht zwischen ihren Schülerinnen auf dem Boden.« Leila streckte die Hand aus und half Cat beim Aufstehen. »Du sitzt hier.« Sie deutete auf einen niedrigen holzgeschnitzten Stuhl vor dem größten Rahmen. »Wenn du mir sagst, was sie tun sollen, übersetze ich es.«
Cat setzte sich auf den Stuhl. Er war niedrig, aber breit, als wäre er für eine viel größere Frau gemacht. Dann hob sie eine Hand. »Ich heiße Catherine und komme aus England. Ich werde euch im Sticken unterrichten. Jetzt sagt mir eure Namen, und dann fangen wir mit ein paar einfachen Übungen an.«
Und so begann ihre erste Stunde.
An diesem ersten Tag zeigte sie ihnen einige grundlegende Stiche und war erleichtert, dass sie keinen davon kannten, obgleich sie unterschiedliche Namen für sie hatten. Damaststich, Plattstich und eine Art Stopfstich, den sie alle kannten. Sie zeigte ihnen zusätzlich den Kreuzstich, den Kettenstich und einen einfachen Fischgrätenstich, der sie zum Lachen brachte: In ihren Augen erinnerte er mehr an eine Weizenähre als an einen Fisch. Sie wiederum zeigten ihr den Fez-Stich, eine Art wendbaren Steppstich, mit dem man Arbeiten herstellen konnte, die auf beiden Seiten des Stoffes gleich aussahen. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist sehr hübsch, aber in den meisten Fällen reine Verschwendung, weil man viel zu viel Garn verbraucht. Ich glaube, wenn ihr stattdessen den Plattstich benutzt, werdet ihr eine ähnliche Wirkung auf der Seite erzielen, die man sieht, und obendrein geht es schneller.« Sie machte es ihnen vor, doch sie verzogen das Gesicht. Der Mensch ist nun mal ein Gewohnheitstier.
Am nächsten Tag brachten alle Frauen eine Arbeit von zuhause mit. Eine packte eine Tunika aus, die am Hals, an den Ärmeln
und am Saum mit einem schlichten, stilisierten Muster verziert war. Es war eine ordentliche, aber anspruchslose Arbeit. »Sehr hübsch«, nickte Cat anerkennend. »Fragst du mal, was das für ein Muster ist?«
Als Leila übersetzte, lachte die Frau - sie hatte nussbraune Haut und einige Zahnlücken - und schnalzte mit der Zunge. Cat hatte den Verdacht, dass sie mit dieser Frage wieder einmal offenbart hatte, wie wenig sie von anderen Ländern wusste.
»Es ist ein Baum-und-Storch-Muster«, erklärte Leila. »Die Frauen hier benutzen es seit Jahrhunderten. Der Storch ist
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