Die Zehnte Gabe: Roman
geschmückt. Die Stickereien waren fachmännisch im Vergleich zu den rudimentären Vorlagen von vorher, die Stiche feiner und regelmäßiger, die Muster exakter ausgeführt und obendrein generell wendbar, was großes Geschick voraussetzte.
Irgendwie hatte sie erwartet, dass die Arbeiten aus Fez sie einschüchtern und ihre eigenen Fähigkeiten und die der Frauen, die sie unterrichten sollte, übersteigen würden. Doch mit einem guten Auge, einer sorgfältigen Vorlage und strenger Übung hätte sogar ein Kind so etwas schaffen können. Sie sind weder ungewöhnlich noch individuell, dachte sie bei sich, und erinnerte sich an den Baum der Erkenntnis. Selbst mit den Vorlagen und Mustern aus dem Stolz der Stickerin hätte sie ihnen das eine oder andere beibringen können. Wie wünschte sie sich, ihr kleines Buch noch zu besitzen. Egal, sagte sie sich dann heftig. Es gehörte zu meinem alten Leben. Jetzt lebe ich ein anderes, aber
meine beiden Hände und meine Fantasie habe ich behalten, das ist alles, was zählt.
»Leila«, sagte sie, und plötzlich schwang eine neue Absicht in ihrer Stimme mit, »es gibt ein paar Dinge, die ich brauche, und sie dürften nicht allzu schwer zu besorgen sein, glaube ich.« Sie legte ihre Wünsche dar, wählte ein Stück Papier von dem runden Tisch und machte sich daran, ein einfaches Muster zu skizzieren. Dabei dachte sie an ihre Unterhaltung mit dem raïs über die Frau des Propheten, Ayesha, und ihren verschmähten Wandbehang. Vielleicht war es das Beste, auf eine allzu realistische Darstellung der lebenden Geschöpfe der Welt zu verzichten. Die Frauen schienen ohnehin stilisierte Entwürfe zu bevorzugen. So fertigte sie eine Zeichnung von sich wiederholenden Farnen an, nur angedeutet, in einem Fries von Ranken eingearbeitet, die mit kleinen Kreuzstichblumen geschmückt waren.
Die Zeichnung stieß auf Applaus und ehrfürchtiges Staunen, als hätte sie einen Zauber vollbracht, deshalb machte sie sich gleich an die nächste, diesmal mit Sternen und Halbmonden. Doch sie fand weniger Zustimmung. »Das ist ein jüdischer Stern, den du gezeichnet hast. Bei uns haben die Sterne acht Spitzen.« Die Holländerin deutete auf eins der Muster aus Fez und zeigte Cat dann dasselbe Motiv in den Wandkacheln. »Es stellt das Siegel Suleimans dar. Es ist ein heiliges Symbol.« Damit faltete sie sittsam die Hände.
Cat war überrascht von Leilas feierlichem Ernst. Bislang war sie ihr nicht als besonders fromme Frau oder gar Muselmanin aufgefallen. Sie griff nach einem neuen Blatt und zeichnete ein neues Muster mit achtzackigen Sternen - einem großen zwischen zwei kleinen -, die sie mit hübschen Blumenranken in den Friesen darüber und darunter vervollständigte. Dies fand allgemeinen Beifall, und als Habiba mit dem Stück feiner Baumwolle, der pulverisierten Kohle und der scharfen Ahle zurückkam, um die sie gebeten hatte, warteten sie ungeduldig, was sie damit anstellen wollte.
»Sucht euch ein Muster aus, mit dem ihr arbeiten wollt«, erklärte Cat und war überrascht, als zehn von zwölf Frauen sich für die Sterne entschieden. Sie schüttete das Kohlepulver in die Mitte des Baumwolltuchs und verknotete die Zipfel. »Das ist ein Streubeutel«, erklärte sie, was Leila als Übersetzerin vor einige Schwierigkeiten stellte. »Jetzt passt einmal auf, wie ich mein Muster auf euer Leinen übertrage.«
Sie stach Löcher in die Linien ihres Papierentwurfs und ging anschließend von einem Rahmen zum anderen, befestigte die Vorlage auf dem Tuch und tupfte dann mit dem Kohlebeutel über das Papier. Es wirkte ziemlich schmuddlig, das Papier war von einem grauen Staubfilm überzogen, doch wenn man die Vorlage abnahm, erschien das Muster darunter absolut sauber. Daraufhin hielten sie sie erst recht für eine Zauberin.
»Jetzt müsst ihr eure Farben wählen - versucht, möglichst nicht dieselbe zu nehmen wie eure Nachbarin, sonst gehen uns die Töne aus, und die Arbeiten werden allzu ähnlich aussehen. Und wählt Farben, die komplementär sind. Ihr habt Glück, es gibt eine Menge schöne Schattierungen, aus denen ihr wählen könnt. In meinem Land müssen sich die meisten Frauen mit Garn begnügen, das wir selbst färben, mit Zwiebelschalen zum Beispiel. Dort sind die Farben eher matt und bleichen mit der Zeit immer mehr aus. Nur reiche Frauen könnten sich so etwas leisten.« Sie hielt eine Spule mit leuchtend türkisfarbenem Garn in die Höhe. »Oder so etwas« - ein Strang scharlachrote Seide.
Die
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