Die Zehnte Gabe: Roman
Vorstellung, dass sie besser dran waren als ihre europäischen Zeitgenossinnen, die sie lange für wohlhabender und privilegierter als sich selbst gehalten hatten, gefiel ihnen über alle Maßen. Sie kicherten und schlugen sich gegenseitig auf die Hände. » Alhamdulillah «, sagte eine, und alle folgten ihrem Beispiel.
Cat lächelte und fühlte sich älter und weiser als ihre kurzen neunzehn Jahre. »Zusammen werden wir viele schöne Sachen machen«, versprach sie ihnen und sah, wie sich ihre eigene
wachsende Zuversicht in ihren Gesichtern spiegelte, die wie Blumen der Sonne zugewandt waren.
An diesem Abend war sie erschöpft. Sie hatte die Stickerei immer als einen entspannenden und beruhigenden Zeitvertreib empfunden, weit weniger anspruchsvoll als ihre übrigen Pflichten, doch nun schmerzten Schultern, Nacken und Rücken, als hätte sie den ganzen Tag mit harter körperlicher Arbeit verbracht. Vielleicht ist es die Anspannung wegen der Verantwortung, dachte sie. Sie hatte noch nie irgendwem irgendetwas beigebracht, es sei denn Matty, wie man Gamaschen schnürt, was sehr viel länger gedauert hatte, als man erwartet hätte. Aber sie war zufrieden. Ein Anfang war gemacht, und mit einiger Übung würden die Frauen eines Tages ganz gut sticken können. Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf, und als sie sich streckte, spürte sie, wie sich die Muskeln allmählich lockerten.
In diesem Augenblick fiel ein Schatten über sie.
In der Tür stand ein hochgewachsener Mann, der sich vor der untergehenden Sonne nur als Silhouette abzeichnete. Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, und plötzlich schlug ihr Herz wie wild gegen die Rippen. Er trat ins Zimmer.
»Guten Abend, Cat’rin.«
Es war der raïs.
Er hielt ihrem Blick stand, bis sie ihn abwandte, dann reichte er ihr etwas. »Ich dachte, du würdest es gern wiederhaben.«
Es war ein kleines Ding, in ein Stück Baumwolle eingeschlagen. Als sie es auspackte, tastete sie seine Konturen unter dem Tuch. Sie wagte es kaum zu hoffen, doch dann lag es plötzlich vor ihr, das Kalbsleder ein wenig abgestoßen und dunkler als zuvor, doch ansonsten unbeschädigt.
Sie presste es an die Brust. »Mein Buch.«
»Ein wenig verkohlt, fürchte ich. Khadija wollte es verbrennen.«
»Khadija?«
»Meine Base, die amina , sie bereitet meine Sklavinnen für den Markt vor. Bestimmt hast du sie nicht so schnell vergessen. Jedenfalls hat sie dich in Erinnerung behalten. Leider war sie wütend, ich hatte eine viel zu feine Djellaba für dich ausgesucht.«
Jetzt erinnerte sie sich wieder an die amina , die gebieterische, schöne Frau, die sie zum Ausziehen gezwungen und die potenziellen Jungfrauen unter ihnen einer solch demütigenden Untersuchung unterzogen hatte. Cats Wangen brannten vor Scham. Sie starrte auf ihre Füße. »Ich habe sie nicht vergessen.«
»Ich habe dir zu viel Aufmerksamkeit geschenkt, und sie ist eifersüchtig.«
Ungläubig starrte Cat ihn an. »Eifersüchtig? Eifersüchtig, dass Ihr mich aus meiner Heimat verschleppt habt, um mich zu verkaufen wie eine gewöhnliche Ware? Wie kann sie eifersüchtig auf mich sein, nachdem sie mich wie ein Tier behandelt hat? Nein, schlimmer, denn ein Tier ist sich keiner Scham bewusst, wenn Fremde seinen nackten Körper einer genauen Prüfung unterziehen.«
Er warf ihr ein schiefes Grinsen zu. »Ich sehe, deine Erfahrungen haben nicht das Feuer in dir getötet, Cat’rin Anne Tregenna.«
»Nein, sie haben mich nicht brechen können«, antwortete sie mit leiser Stimme. »Sollte das Eure Absicht gewesen sein, so ist es Euch nicht gelungen. Im Gegenteil, es scheint, als hätte ich großes Glück, denn mein neuer Herr ist ein Mensch von bemerkenswertem Feingefühl. Er hat mich mit einer Arbeit betraut, die mir über alle Maßen gefällt, und das hat erheblich dazu beigetragen, meine Selbstachtung und Hoffnung in die Welt wiederherzustellen.«
»Er muss ein feiner Mann sein; hat in kurzer Zeit viel erreicht.«
»Davon bin ich überzeugt. Bisher hatte ich noch nicht das Vergnügen, seine Bekanntschaft zu machen.«
»Seltsam, er gibt so viel Geld aus für dich und lässt sich anschließend nicht blicken«, sinnierte er.
Cat verschränkte die Arme und sagte nichts dazu, obgleich sie zugeben musste, schon dasselbe gedacht zu haben.
»Ich hoffe, dieser gute Mann findet dich nicht so gefährlich wie ich«, fuhr er fort.
»Gefährlich?«
»Es heißt, Gott habe die Menschen aus Erde geschaffen und die Djinn aus Feuer.
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