Die Zehnte Gabe: Roman
schlimm?, flüsterte mein verräterisches Hirn.
Ja, das wäre es. Bevor ich etwas wirklich Dummes sagen oder tun konnte, stand ich unvermittelt auf und ging nach oben. Allein.
Erst nachdem ich mich auf dem schmalen Bett ausgestreckt und meinen Kopf auf das Kissen gebettet hatte, fiel mir wieder ein, was Idriss gesagt hatte.
… der außergewöhnlichen Miss Julia Lovat …
Er fand mich außergewöhnlich. Und mit diesem Gedanken, der wie eine schützende Wolke über mir hing, schlief ich lächelnd ein.
SECHSUNDZWANZIG
ROBERT
November 1625
D a Robert Bolitho in seinem ganzen Leben nie ernsthaft krank gewesen war, konnte er sich nicht damit abfinden, dass er auf dieser, seiner ersten Seereise, tagein, tagaus, ein dünnes Rinnsal gelber Galle erbrach und sich so schwach wie ein alter Mann fühlte.
»Bist bloß seekrank, mein Junge«, erklärte ihm der Erste Offizier und lachte beim erbärmlichen Anblick eines derart kräftigen Mannes. »Du wirst es überleben.«
Das kann nicht sein, dachte Rob. Wie das aller Einwohner von Cornwall bestand sein Blut zur Hälfte aus Salzwasser. Es musste einen anderen, schlimmeren Grund geben.
Am Ende der zweiten Woche auf See, als der abscheuliche Schwindel noch immer nicht nachlassen wollte, hätte er sich am liebsten über Bord gestürzt, um seinen Qualen ein Ende zu machen. Allein die Vorstellung, dass Catherine von barbarischen Sklaventreibern misshandelt und geschlagen wurde, gab ihm die Kraft, Tag für Tag die Zähne zusammenzubeißen und durchzuhalten. »Sie leidet viel mehr als ich«, sagte er sich wieder und wieder. »Und wenn sie es aushält, kann ich es auch.«
Dann kam der Tag, an dem er es schaffte, ein Stück altes Brot und etwas Trockenfleisch bei sich zu behalten. Von da an ging es ihm von Stunde zu Stunde besser, bis er eines Morgens, das Gesicht der Sonne zugewandt und mit dem Geruch der salzigen Gischt in der Nase an Deck stand, zusah, wie das Licht auf den
Wellen tanzte und sich sagte, dass er an keinem schöneren Ort der Welt sein könnte. Der Wind peitschte Höhen und Tiefen in die Schaumkronen, die Segel blähten sich, und das Schiff schoss dahin wie ein großer Seevogel. Es war eine ruhige Überfahrt gewesen, erklärte ihm der Erste Offizier - Rob hätte Glück gehabt. Und dann unterhielt er ihn mit Geschichten von Stürmen, gebrochenen Masten, versunkenen Booten und dem Geschrei der ertrinkenden Männer, bis Rob erneut flau im Magen wurde. »Von den Piraten ganz zu schweigen«, fuhr der Mann fort, ohne auch nur im Geringsten zu bemerken, welche Wirkung diese Reminiszenzen auf seinen Zuhörer hatten. »Die Meere sind verseucht mit ihnen. Es kommt heutzutage selten vor, dass ein Schiff die Meerenge passiert, ohne dass sich irgendein Seeteufel aus Sallee oder Algier an seine Fersen heftet. Ein Freund von mir wurde vor den Küsten der Kanarischen Inseln von Freibeutern aufgebracht und zum Galeerendienst im Mittelmeer verdonnert. Wenn du seine Geschichten hören könntest, würdest du dir in die Hosen scheißen.«
Rob wollte sie gar nicht hören, aber der Seemann hatte ihn am Dollbord festgenagelt.
»Splitternackt an seine Bank gekettet, musste er zwanzig Stunden am Tag rudern und wurde ausgepeitscht, bis Blut floss. Alles, was sie bekamen, um durchzuhalten, war ein Stück Brot, in Wein getunkt, wenn der Offizier die Runde machte, damit die armen Kerle nicht das Bewusstsein verloren. Ein rundes Dutzend Männer starb, und selbst dann prügelten sie noch auf sie ein, nur um sicher zu sein, dass sie wirklich krepiert waren und sich nicht bloß tot stellten. Anschließend kippten sie sie über Bord. Mein Freund hat es drei Jahre überlebt, dann wurde er an einen anderen Herrn verkauft und musste unweit von Algier Hütten bauen. Trotzdem hatte sich nicht viel verändert, wie er mir erzählte, Tag und Nacht wurde er ausgepeitscht, aber zumindest durfte er hin und wieder auf etwas liegen, was nicht auf dem Salzwasser schlingerte und von einer Seite auf die andere
geworfen wurde. Er hat fürchterliche Dinge gesehen. Männer, die man so lange auf die Fußsohlen schlug - Bastinade nennen sie das, diese Unmenschen -, bis sie schwarz und blutig waren, und die danach nie wieder laufen konnten. Einer, der zu fliehen versuchte, wurde eingefangen und von Pferden durch Dornen und Steine geschleift, bis er starb. Einen anderen haben sie bei lebendigem Leib zerstückelt - ihm Ohren, Zehen, Finger abgesäbelt, nach und nach, bis er schreiend verreckte. Die Mohammedaner
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