Die Zehnte Gabe: Roman
Khaled?«
»Er trifft uns gegen zwei in einem Café in der Nähe des Bahnhofs.«
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Kurz vor halb zwölf. »Und was machen wir bis dahin?«
»Ich zeige Ihnen die Souks, die Catherine auch gesehen hat, und wo ich aufgewachsen bin.«
Ich zog über meine Jeans die dunkelblaue Djellaba, die er mir am Abend zuvor gebracht hatte, doch das weiße Kopftuch verwirrte mich: Mein Haar war einfach zu dicht, um es darunter zu verbergen. Ich versuchte, es unter die Djellaba zu schieben, doch was ich auch anstellte, immer wieder rutschte das Kopftuch herunter. Am Ende hatte ich es völlig verknäuelt, und mein Haar stand nach allen Seiten ab.
»Verdammt noch mal«, schimpfte ich wütend, und als ich mich umdrehte, stand plötzlich ein Fremder mit grauer Djellaba und einem dunkelblauen Turban vor mir und beobachtete mich schweigend. Ich brauchte volle drei Sekunden, bis mir aufging, dass dieses exotische Wesen Idriss war.
»Warten Sie«, sagte er, und nahm mir das Tuch weg. »Lassen Sie mich mal. Bei so vielen Schwestern bekommt man Übung.«
Seine Finger streiften meinen Hals, und ich hätte nicht sagen
können, ob das Zufall war oder nicht. Dann folgte der weiche Baumwollstoff, und wenige Augenblicke später hatte er ihn tadellos um meinen Kopf geschlungen und mich vollkommen verschleiert.
So traten wir in die Welt hinaus.
In der Medina brodelte der Verkehr - eine bizarre Mischung von Mensch, Tier und Maschine. Gerade wenn man glaubte, eine Fußgängerzone erreicht zu haben, knatterte ein Motorrad um die Ecke, dessen Fahrer die Hupe gar nicht mehr losließ, und alles drückte sich flach gegen die eng beieinanderstehenden Häuserwände. Wie die Esel mit solchen Erniedrigungen fertig wurden, war mir schleierhaft, doch sie betrachteten das Ganze offenbar philosophisch und standen geduldig in ihrem Geschirr oder an ihre Pfosten angebunden, während man ihnen oder den Karren, die sie zogen, immer größere Lasten aufbürdete.
Den Marokkanern im Souk schien diese pazifistische Philosophie fremd zu sein. Wir kamen an einer Frau vorbei, die voller Wut einen Mann anschrie, nachdem er gerade ein Stück hellblaue Baumwolle für sie abgeschnitten hatte. Wild gestikulierend hob sie den Tuchballen, als wollte sie damit auf ihn losgehen, und er ging in Deckung. Idriss sah, wie ich die beiden anstarrte. »Sie streiten sich um den Preis«, lachte er. »Ein klassischer Trick, sich erst dann zu beschweren, wenn der Stoff bereits zugeschnitten ist, und dem Händler die Schuld zu geben. Meine Tante machte das auch immer so. Dann rauschte sie wütend ab und ließ den armen Mann ratlos sitzen, nur um nach ein paar Minuten wiederzukommen und ihm gnädigerweise den halben Preis anzubieten.«
»Und er ging darauf ein?«
»Natürlich. Er hatte ihr bereits einen Preis genannt, der doppelt so hoch war wie das, was er erwartete, und so waren beide zufrieden.«
Ich schüttelte den Kopf. Es schien mir eine ziemlich anstrengende
Art zu sein, Geschäfte zu machen, spiegelte jedoch den nationalen Charakter ganz gut wider. In Marokko schien sich alles um soziale Interaktion zu drehen, und zwar auf eine Weise, die in England undenkbar gewesen wäre. Hier hatte niemand Probleme, seine Gefühle zu zeigen. Ich sah Männer, die sich zur Begrüßung küssten oder Hand in Hand durch die Straßen spazierten. »Es sind Freunde«, erklärte Idriss. »Und zwar nicht in der euphemistischen Bedeutung, in der Europäer diesen Begriff benutzen. Hier ist Freundschaft etwas Lobenswertes, und wenn die Leute fragen, wie es einem geht, wollen sie es wirklich wissen, nicht nur die übliche Floskel hören, die sie auf Distanz hält.«
Ich lächelte. »Wie geht es Ihnen also heute, Idriss el-Kharkouri?«
Er blieb mitten auf der Straße stehen und drehte sich zu mir um. »Bevor Sie mir eine solche Frage stellen, Julia Lovat, sollten Sie ganz sicher sein, dass Sie die Antwort auch hören wollen.«
Meine Wangen flammten auf. Ich konnte nicht anders und wandte den Blick ab.
Danach gingen wir eine Weile fast schweigend durch die Medina und kamen an einem Stand nach dem anderen mit allerlei Waren und Lebensmitteln, an Bäckereien und Cafés vorbei. Einmal bogen wir um eine Ecke und stießen auf einen alten Mann, der seine Waren auf einem schwarzen Stück Plastik vor ihm auf der Erde feilbot. Eine kleine Menschenmenge hatte sich um ihn versammelt und lauschte seinen Erklärungen mit verzückten Gesichtern. Ich verrenkte mir den Hals, um besser
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