Die Zehnte Gabe: Roman
sehen zu können, als einer der Männer sich umdrehte und mich böse anfunkelte. Mehrere andere folgten seinem Beispiel, bis Idriss mich davonzog.
»Warum haben sie mich so böse angesehen? Fast feindselig.«
»Sie wollten nicht, dass eine Frau ihre Männergeheimnisse durchschaut.«
»Was hat er verkauft?«, fragte ich ärgerlich. »Ich will es wissen.«
»Mittel gegen Impotenz, Aphrodisiaka, Substanzen zur Verlängerung … der Erfahrung.« Er lachte. » La merde de la balaine .«
»Was?«
»Walfischscheiße. Wale sind berühmt für ihre enormen … Geschlechtsteile. Es handelt sich um eine Art magische Beschwörung.«
»Aber wie um alles in der Welt würde man Walfischscheiße sammeln … oh, verstehe. Er ist ein Schwindler.«
»Vermutlich ist es nur harmlose Erde. Wie auch immer, er schien gute Geschäfte zu machen. Wünschen wir ihm Glück. Alhamdulillah !«
»Und das in aller Öffentlichkeit! Ich dachte, Sex wäre ein Thema, das hier tabu ist.«
»Sie haben wirklich merkwürdige Vorstellungen. Im Koran steht, der Mann habe die Pflicht, seine Frau zu befriedigen.«
»Wirklich? Was für eine ausgezeichnete Religion.«
Danach unterhielten wir uns ungezwungener, und Idriss zeigte mir allerlei ungewöhnliche Gegenstände - die silberne Hand von Fatima, um den bösen Blick abzuwehren, Gefäße mit Rosenwasser, Moschus und Amber. An einem Stand kaufte er mir einen kleinen dunkelblauen Stein mit einem seltsamen metallischen Glanz. Eine alte Frau wickelte ihn sorgfältig in einen Fetzen Zeitungspapier. »Das ist Khol«, erklärte er. »Dasselbe, wie Catherine hier gekauft hätte. Meine Schwester kann Ihnen zeigen, wie man es benutzt.«
Er führte mich zu einem Stand mit bunt bemalten Töpfereien, die in Safi hergestellt wurden, etwas weiter die Küste hinab, und begrüßte den uralten zahnlosen Händler. Als wir weitergingen, sagte er: »Jeden Samstagmorgen kam ich als Allererstes hierher, bevor er seinen Stand aufbaute, und durfte ihm helfen, die Ware auszupacken.«
»So sehr gefiel sie Ihnen?«
Er grinste. »Nein. Einiges war in herausgerissene Seiten aus alten Comic-Heften verpackt - bandes dessinées - die ich zuhause nicht lesen durfte. Mein Vater war sehr streng. Für einen sechsjährigen Jungen galt einzig und allein der Koran als angemessene Lektüre. Die dekadenten Abenteuer von Rodeo Rick, Pif oder Asterix und Obelix hätte er mir nie erlaubt. Also setzte ich mich in den hinteren Teil des Stands und verlor mich in all den herrlichen Fragmenten der Geschichte, während meine Brüder zuhause Suren aus dem Koran sangen.«
Auf der Rue des Consuls schlenderten wir an den allgegenwärtigen Teppichhändlern vorbei, deren Räuberhöhlen mit herrlichen Laternen und Tapisserien ausgestattet waren. Ich beobachtete einen Händler, der ein Touristenpaar einwickelte, das dummerweise stehen geblieben war, um die Auslage zu bewundern, und sich jetzt hilflos in der Falle sah. Mir hatte niemand etwas zu verkaufen versucht, aber das lag vermutlich an Idriss’ abschreckender Gegenwart, wie ich zuerst glaubte, bis mir aufging, dass auch Djellaba und Hijab eine Rolle spielten. Getarnt und unbelästigt bewegte ich mich durch den Basar und beobachtete selbstgefällig die beiden Europäer - sie in einem teuer geschnittenen Kleid und Sandalen von Prada, er ein wenig rundlich in Khakihosen und einem blauen Seersuckerhemd -, die unter den beflissenen Aufmerksamkeiten des Händlers zappelten wie zwei Fische am Haken. Inzwischen war noch ein zweiter Verkäufer dazu gekommen, der schwungvoll Teppiche zu ihren Füßen ausbreitete. Mindestens ein Dutzend lagen bereits vor ihnen: Wie konnten sie sich nach einem solchen Spektakel noch weigern, einen zu kaufen? Ein Teppichende fiel der Frau halb auf den Fuß, und ich sah, wie sie einen kleinen Satz zurückmachte, den Arm ihres Mannes umklammerte und ihm erschrocken das Gesicht zuwandte.
Es war Anna.
Halt, nein, das stimmte nicht ganz. Es waren Anna und Michael,
vereint wie ein symbiotisches, zweiköpfiges Wesen, das vor einer Attacke zurückweicht. Michael hatte den Arm um sie gelegt, besitzergreifend und beschützend zugleich, obwohl er angesichts der gnadenlosen Verkaufsmasche genauso hilflos wirkte wie sie.
Einen Augenblick stockte mir der Atem. Dann fasste ich instinktiv nach Idriss’ Arm, und meine Finger schlossen sich um seinen harten Bizeps. »Schnell, wir müssen weg von hier.«
Ich wandte mich ab und zerrte ihn an den Verkäufern von schmiedeeisernen Gittern oder
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