Die Zehnte Gabe: Roman
durchdringender Geruch, den er nur allzu gut kannte, und das erfüllte ihn nicht gerade mit Zuversicht. »Und jetzt?«, fragte er.
»Jetzt gehen wir zum Haus eines Mannes, der jemanden kennt, der uns zu einer Audienz bei Sidi Al-Ayyachi verhelfen kann. Dieser Mann und ich haben schon früher Geschäfte gemacht, aber er wird nicht erfreut sein, dass ich jemanden mitbringe, der so auffällt wie du. Wenn er fragt, werde ich behaupten, dass du mein jüngerer, zurückgebliebener Bruder bist. Falls du dein Gesicht entblößen musst, lass die Zunge raushängen und versuch zu schielen. Sie würden dich umbringen, wenn sie eine Gefahr in dir sähen.«
So wie du die Männer im Wald, dachte Rob, sagte aber nichts. Er nickte und übte das Schielen.
Marshall grinste. »Perfekt. Du könntest überall auf der Welt als Idiot durchgehen.«
Er klopfte an eine mit Nägeln beschlagene Tür. Nach einer Weile tat sich eine rechteckige Luke in der Tür auf, und Rob erblickte flüchtig ein verschrumpeltes braunes Gesicht im Schatten auf der anderen Seite. Marshall sagte etwas, dann öffnete sich die Tür, und er stieß Rob in den Rücken. »Na los, mach schon!« Plötzlich stand er im Innern des Hauses, und der kleine Fremde starrte zu ihm auf. Wie auf ein Stichwort wickelte Rob den Turban vom Gesicht und zog die abscheulichste Fratze, die er zu Stande brachte. Der Mann wich zurück und machte das Zeichen von Fatimas Hand, um den bösen Blick abzuwehren.
Marshall und er wechselten einen Schwall von gutturalen Lauten, dann wandte sich sein Gefährte zu ihm um. »Das reicht. Es hat geklappt. Jetzt komm mit.«
Man führte sie in ein kühles Zimmer, wo eine dunkeläugige, misstrauische Frau ihnen Tee servierte und dann wegrannte, bevor Rob sie mit seinem abstoßenden Gesicht verfluchen konnte.
Hier saßen sie so lange, dass es ihnen wie eine Ewigkeit erschien. Jedes Mal, wenn Rob etwas sagen wollte, legte Marshall den Finger auf den Mund und deutete schweigend auf die Tür. Spione , formten seine Lippen. Schließlich verhüllte Rob sein Gesicht, lehnte sich gegen die Wand und schlief ein.
Endlich hörte man Stimmen im Gang. Als ein Mann das Zimmer betrat, stand Marshall auf. Er war jünger und sah gefährlicher aus als der erste. Er hatte helle Haut und einen abstehenden schwarzen Bart. Rob fiel auf, dass er sowohl ein Schwert wie auch einen Dolch bei sich führte und zu wissen schien, wie man damit umging. Eine formelle Begrüßung fand nicht statt. Der jüngere Mann wirkte nervös und misstrauisch. Er stieß Rob mit dem Fuß an. »Setz dich gerade, Robert«, befahl Marshall. »Mein armer närrischer Bruder«, sagte er und wandte sich achselzuckend wieder dem Neuankömmling zu. »Es gab niemanden, in dessen Obhut ich ihn hätte zurücklassen können.«
Der Mann beugte sich vor und riss Rob mit einem Ruck den Turban ab. Der war so schockiert, dass er volle zwei Sekunden brauchte, um sich an seine Narrenrolle zu erinnern, doch da war es schon zu spät. Der Mann schlug ihm fest ins Gesicht, und Rob starrte ihn an, empört und benommen angesichts dieses unerwarteten Gewaltausbruchs. »Offenbar hat Hassan bin Ouakrim Wunderkur gewirkt«, sagte der Mann zu Marshall. »Ich glaube nicht, dass dieser Mann ist wirklich Narr.« Dann zog er seinen Dolch - im gedämpften Licht des Salons glänzte die gebogene Klinge - und richtete die Spitze auf Rob. »Wer ist er, und warum hast du ihn mitgebracht? Ist nicht dein Bruder - zu
bleich, zu rosig, wie schmutziges Schwein, und die blauen Augen hat er vom Teufel. Sprich die Wahrheit, oder ich schlitze Kehle auf.«
»Er heißt Robert Bolitho. Er ist hier, um seine Frau zu befreien, die in diesem Sommer in Cornwall von Piraten entführt wurde.«
Der andere lachte. »Al-Andalusis Trophäen, ja! Christliche Frauen wurden verkauft wie Vieh im Souk el-Ghezel, und wir haben gelacht!«
Rob ballte seine Fäuste so stark, dass er Angst hatte, die Knöchel könnten unter dem Druck zerspringen. Er brauchte seine ganze Willenskraft, um nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich kann für mich selbst sprechen«, sagte er dann, so ruhig wie möglich. »Eine dieser gefangenen Frauen ist meine Braut, meine … äh … zukünftige Frau, Catherine Anne Tregenna. Sie hat langes Haar, rot, bis hier -« Er deutete auf seine Taille. »Dieselbe Farbe wie das -« Und damit näherte er die Hand einem lohfarbenen geflochtenen Gürtel, den der andere Mann trug.
Auf der Stelle sauste der Dolch herab und streifte Robs Hand. Er
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