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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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sanften Schwung ihres Mundes, wenn sie lächelte.

DREISSIG
    Anschließend wurde ich vom Haus des Sidi in einen Kercker geworfen, mazmorra genannt. Er lag unter der Erde, sodaß nur wenig Licht durch eine schmale Ritze fiel & dort sah ich ein wahres Bild von Elend & menschlichem Leit - hundert armselige Unglückliche in Lumpen & Dreck, manche abgemagert bis auf die Knochen, schwach von Kranckheit & Mangel an Ernehrung …
    E ntsetzt legte ich den Brief auf den Tisch und schaute zu Idriss auf. »Wurden die Gefangenen wirklich unter solch entsetzlichen Bedingungen gehalten?«
    »Ich glaube schon. Es gab so viele Sklaven, dass man einen Aufstand befürchten musste, wenn man sie bei Kräften hielt und in normalen Gefängnissen unterbrachte.«
    »Was für grausame Zeiten und was für barbarische Menschen!«
    »Und natürlich würde heute niemand mehr Gefangene so quälen oder ihre Menschenrechte so offensichtlich mit Füßen treten, wie? Guantanamo Bay möchte ich gar nicht erst erwähnen. Oder die brutale Versklavung der Afrikaner durch Briten, Spanier, Portugiesen und Amerikaner …« Er zählte sie an den Fingern ab.
    »Ich verstehe, was du meinst«, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln.
    Wir saßen im Speisesaal eines Restaurants mit wunderschönem Innenhof, das Freunden von Idriss gehörte. Wir hatten Taubenpastete und Fisch-Brochettes gegessen und uns diskret
eine Flasche des guten Rosés aus der Gegend geteilt. Entweder hatte der Wein oder der Inhalt der uralten, vergilbten Blätter uns ein wenig benebelt.
    »Khaled wird absolut begeistert sein«, sagte Idriss plötzlich. »Seit Jahren recherchiert er über Sidi Al-Ayyachi, aber ich glaube nicht, dass er je eine Quelle gefunden hat, die den Mann so persönlich oder, wie ich glaube, akkurat beschrieben hat.«
    »Er scheint ein echtes Ungeheuer gewesen zu sein.«
    »Helden oder Schurken - in Wirklichkeit sind sie alle Ungeheuer.« Idriss lächelte. Er klopfte eine seiner allgegenwärtigen Zigaretten auf die Handfläche, betrachtete sie einen Augenblick und steckte sie in die Schachtel zurück. Dann schloss er diese und schob sie mit einer entschiedenen Geste beiseite. »Es wird Zeit, eine schlechte Angewohnheit aufzugeben«, sagte er.
    »Einfach so?«
    »Einfach so.«
    »Du scheinst dir ja sehr sicher zu sein.«
    »Es gibt einige Dinge im Leben, über die ich mir sehr sicher bin.« Dabei sah er mich so eindringlich an, dass mir schwindlig wurde.
    Genau in diesem Augenblick stieß einer der vielen Kellner, die uns den ganzen Abend höflich und unaufdringlich bedient hatten, eine kleine Vase im Hof um, und es folgte ein ziemlicher Tumult, als einer die verstreuten Rosen aufsammelte, ein anderer das Wasser aufwischte und ein Dritter losrannte, um Schaufel und Besen zu holen. »Wir sollten gehen«, sagte ich und sah auf die Uhr. Kurz nach elf. In meinem erschöpften Kopf fühlte es sich an wie drei Uhr morgens.
    »Willst du den Brief nicht zu Ende lesen?«
    »Ich bin todmüde. Wir lesen ihn morgen weiter. Oder übermorgen, wenn du nichts dagegen hast, dass ich noch etwas länger bleibe.« Außerdem brauche ich etwas Zeit für mich, dachte ich, um über diesen ziemlich ungewöhnlichen Tag nachzudenken.
In sehr kurzer Zeit war eine Menge passiert. Nicht zuletzt der Kuss, den er mir in der Gasse gegeben hatte.
    Idriss strahlte. »Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest. Unser Haus ist dein Haus, so lange du willst.«
    Wir gingen zu Fuß zurück durch die menschenleere Medina, und die Sichel des zunehmenden Mondes warf ihr silbernes Licht über uns. Hagere Katzen huschten beim Klang unserer Schritte davon. Wir störten ein Rudel halbwilder Hunde auf, die sich um den Unrat balgten, den die Marktleute hinterlassen hatten. Doch sie knurrten uns nicht an, sondern verschmolzen einfach mit der Dunkelheit, bis wir vorbei waren. Irgendwo sang ein Vogel, und sein Ruf hing klagend und traurig in der Luft. » Andaleeb «, sagte Idriss. »Den englischen Namen dafür weiß ich nicht. Ich glaube, es ist eine Art Lerche oder so was. Unsere Tradition besagt, dass diese Vögel mit den Stimmen von Liebenden singen, die einander verloren haben. Wenn die Sterne es gut mit ihnen meinen, kannst du gleich auch das Weibchen hören. Pass gut auf.«
    So standen wir im Schatten der uralten Almohadenmauer und warteten. Die Sekunden vergingen, doch sie kamen mir wie eine Ewigkeit vor. »Sie antwortet nicht«, scherzte ich, doch Idriss legte einen Finger auf die Lippen. »Warte.«
    Und

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