Die Zehnte Gabe: Roman
zum Himmel, eine Mondsichel hing in den Zweigen, und die Sterne kreisten in prächtiger Harmonie am Firmament. Sie konnte sie nicht sehen, aber sie wusste, dass Adam, Eva und die Schlange Teil dieses Tableaus waren, gesichtslos, zeitlos und endlos wandelbar. Sie ahnte ihre Gegenwart, gewaltig und katastrophal, in ihrem Innern und gleichzeitig außerhalb von ihr. Blitzartig spürte sie Fleisch und Blut und Rinde, Hitze und Kälte, Leere und Dichte, Sanftheit und Kraft, und bald konnte sie nicht mehr sagen, wo sie selbst aufhörte und das andere begann. War sie Eva oder Adam, die Schlange oder der Baum? Sie spürte, dass die Erkenntnis in ihr aufstieg wie Lebenssaft, wie eine gewaltige Woge von Blut, unter der ihr Herz zu rasen und ihr Kopf zu hämmern begann, und dann stürzte sie zu Boden, und der Lärm in ihrem Innern brach unvermittelt ab.
Der Korsar reagierte als Erster. Er rief etwas auf Arabisch, einen großen Fluch oder Aufschrei, dann hob er Cats reglosen Körper auf und trug ihn fort. Habiba und Hasna trippelten hinterher und ließen Rob inmitten einer Schar von aufgeregten Frauen stehen, die ihm mit ihren fremden Augen verstohlene Blicke zuwarfen und hinter ihren Schleiern lachten. Er wandte den Blick ab. Auf dem Boden, da wo sie zusammengebrochen war, lag etwas, was er wiedererkannte. Er bückte sich und hob es auf, und dabei fiel ihm ein, wie es sich angefühlt hatte, als er es das letzte Mal in der Hand gehabt hatte: Kurz bevor er es ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte.
Er blätterte um bis zum Titelblatt, und tatsächlich, da stand seine Widmung: Für meine Base Cat, am 27. Mai 1625. Weniger als ein Jahr. Dabei fühlte es sich an, als wäre ein ganzes Jahrhundert vergangen. Tränen brannten in seinen Augen wie glühende Nadeln. Es musste etwas bedeuten, dass sie es aufbewahrt hatte, was immer passiert war. Er blätterte weiter, erstaunt, überall Cats Handschrift zu finden, und weit sauberer und kleiner, als er es von seiner eigenwilligen, schwierigen Base je erwartet hätte. Er grübelte über den Diagrammen und Skizzen, drehte das Buch nach rechts und nach links und stolperte hin und wieder über einen Satz oder einen Namen: »… & Rob musste ich schwören kein Sterbenswort über Piraten … gefangen für immer hier auf Kenegie.« Er las weiter. »… verheiratet mit meinem dummen Vetter Robert. Auf daß ich in einer armseligen Hütte hinter dem Kuhstall hause, Jahr für Jahr ein neues Kind zur Welt bringe, einen Haufen Bälger großziehe & vergessen sterbe. Ich muß fort von hier…« Das konnte sie unmöglich ernst gemeint haben … Der Schweiß brach ihm aus. » Meine Mutter ist krank & ich kann ihr nicht helfen. Wir haben weder Licht noch frische Luft … « Das zumindest erschien ihm vertraut, weil es seinen eigenen Erfahrungen entsprach. Er fragte sich, ob Jane Tregenna überlebt hatte, fand jedoch keine weiteren Hinweise auf ihr Los in der unmittelbaren Nachbarschaft des Zitats. Dann stieß er auf folgenden Abschnitt: » Ich wünschte,
ich hätte den Rat der alten Annie Badcock beherzigt und wäre mit Rob nach Kenegie zurückgekehrt… « Sein Atem beruhigte sich ein wenig. Am Ende würde doch noch alles gut. Doch dann blätterte er auf der Suche nach weiterer Bestätigung wieder ein wenig zurück und las: » So liege ich hier … in der Kajüte des Piratenkapitäns … «
Er klappte das Buch zu und versteckte es unter seinem Hemd. Niemand darf das sehen, nahm er sich vor, von Grauen erfüllt. Wenn ich sie von hier wegbringe, werden wir es verbrennen oder auf dem Schiff über Bord werfen, und wenn wir erst verheiratet sind, werden wir nie wieder davon sprechen. Er marschierte zur Tür und schob Latifa aus dem Weg, als sie versuchte, auf ihn einzureden.
»Trink das.«
Kühles Wasser benetzte ihre Lippen. Ihre Augen öffneten sich flatternd. Ganz dicht über ihr war ein Gesicht, sie sah es nur verschwommen, aber es war dunkel und die Augen so schwarz wie Kohle. Sanfte Finger strichen über ihre Stirn, klopften ihr auf die Wangen.
»Cat’rin, Cat’rin, komm zurück zu mir.«
Wo war sie gewesen? Und wohin ging sie? Seltsame Bilder wirbelten ihr durch den Kopf, Bilder von einem Schiff auf hoher See, unterwegs zu einem grünen Land, ihr Vetter Rob stand am Steuer. Er brachte sie fort …
Sie rappelte sich auf, ergriff die Hand, die ihr Gesicht berührte, und schloss ihre Finger darum. »Befehlt mir, nicht zu fahren. Ich will nicht weg von hier.« Sie hörte sich an wie eine
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