Die Zehnte Gabe: Roman
Sechsjährige, quengelig, bettelnd, dass man ihr den Besuch bei Onkel und Tante ersparen möge. Sie mochte den Klang ihrer eigenen Stimme nicht.
Die Hand hielt sie fest. Jemand küsste ihre Finger.
»Oh.« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, und bevor sie den kleinsten Gedanken fassen konnte, erwiderte sie seinen Kuss mitten auf den Mund.
Dieser Kuss hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem, den Sir John Killigrew ihr aufgezwungen hatte: Bartstoppeln, Zunge, der Gestank nach Tabak und Bier. Dieser Kuss schmeckte nach Kräutern und Minze, und sie wollte nicht, dass er jemals aufhörte.
Am Ende löste sich der raïs von ihr und hielt sie auf Armeslänge von sich entfernt. »Was sagst du da, Cat’rin? Bist du bei klarem Verstand oder immer noch auf der Suche?«
Jetzt, da er wieder scharf zu sehen war, wirkte er nervös. Cat faltete die Hände im Schoß und sah eine Weile nachdenklich auf sie herab. Das Schweigen hing zwischen ihnen wie ein Schleier. Ihre Gedanken rasten. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie freiwillig einen Mann geküsst. Vor allem aber hatte sie nicht erwartet, dass es derart überwältigend sein konnte: als wäre ihre Haut - ihre ganze Haut - unter seiner Berührung zum Leben erwacht. Am Ende zwang sie sich zur Konzentration und fragte: »Und ich bin nicht länger Eure Sklavin?«
»Ich habe dir die Freiheit geschenkt. Du bist eine freie Frau und musst eine freie Entscheidung treffen.« Er zögerte. »In Wahrheit bin jetzt ich dein Sklave, fürchte ich«, setzte er leise hinzu.
Sie sah erneut auf ihre Hände und versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. Dann wurde sie still. »Wenn ich bleibe, muss ich dann zum Islam konvertieren?«
»Wenn du meine Frau wirst, ja, Cat’rin. Aber du kannst auch als freie Frau unter meinem Dach leben, deiner Arbeit nachgehen, dein eigenes Geld verdienen, und ich rühre dich nicht an, wenn dir das lieber ist.«
»Ihr würdet mich zur Frau nehmen?«
Qasem nickte. »Von ganzem Herzen.«
»Eurer einzigen Frau?«
»Eine genügt mir.«
»Wolltet Ihr nicht Eure Base Khadija heiraten?«
Er lachte. »Ich glaube, diese Geschichte hat Khadija selbst in die Welt gesetzt.« Er presste ihre Hand an seine Brust, sodass
sie den tiefen, starken Herzschlag hörte, der sich darin verbarg. »Willst du mich heiraten, Cat’rin Tregenna?«
Ihre Augen weiteten sich. Wenn sie das tat, musste sie seinen Glauben annehmen und wäre in den Augen ihrer eigenen Religion in alle Ewigkeit zur Hölle verdammt. Sie wäre eine Abtrünnige, eine Ketzerin, eine Ungläubige. Die Entscheidung kam ihr unwirklich vor; sie wusste nicht einmal mehr, ob sie im Herzen noch Christin war. Auf der Reise und später im Sklavenkerker hatte sie etwas verloren. Wenn sie vernünftig war, würde sie alles nehmen, was ihr an diesem Tag geschenkt worden war - Rob, ihre Freiheit, Herz und Hand dieses fremden Mannes, eine Zukunft als Meisterstickerin - und einen langen Tag und eine ganze Nacht darüber nachdenken.
Sie wusste, dass sie genau das tun sollte, aber sie konnte nicht. Zu viel Nachdenken machte sie verrückt. Sie holte tief Luft und sagte hastig, damit die Worte sie nicht im Stich ließen: »Ich werde hierbleiben und dich heiraten, Qasem.«
In diesem Augenblick betrat Robert Bolitho den Innenhof. Er konnte Catherines Worte nicht hören, doch die Haltung der beiden Gestalten am Brunnen war unmissverständlich. Er hatte das Gefühl, in eine Zweisamkeit einzudringen, die er nicht ertrug. Der stumpfe Schmerz, der sich in seinem Innern ausbreitete, ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben. Und als er dann sprach, schien es, als hätte sich die ganze Welt verändert.
»Catherine!«
Er sah, wie sich seine Base von dem Korsarenkapitän löste und sich ihm zuwandte, und er sah, dass ihr Blick unverstellt und ihre Wangen erhitzt waren, sodass sie tatsächlich aussah wie die gefallene Frau, zu der sie geworden war.
»Catherine, ich möchte dich retten, komm mit mir nach Hause. Du bist nicht an ihn gebunden, was immer er sagt.«
Sie sprang auf, und der Schleier rutschte von ihrem Haar, das um sie wogte wie Feuer. »Ich brauche nicht gerettet zu werden, Robert Bolitho. Ich treffe meine Wahl aus freien Stücken. Wenn
du nach Kenegie zurückkehrst, kannst du allen erzählen, dass ich mich freiwillig entschieden habe, hierzubleiben, und zwar aus vielen guten Gründen, die du niemals verstehen würdest.«
»Oh, ich verstehe sehr gut«, sagte er bitter und warf einen Blick auf den Piraten. Als er weitersprach, war
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