Die Zehnte Gabe: Roman
Frauen zusammensetzte, um Skizzen für das Muster zu machen. »Granatäpfel«, schlug Hasna mit glänzenden Augen vor. »Denkt nur an die Wirkung von Gold und Rot auf Weiß!«
Doch die Witwe Latifa schnalzte mit der Zunge. »Granatäpfel gibt es beim ersten Kind - das weiß doch jeder! Willst du, dass die Braut mit einem Schleier der Schande heiraten muss?«
Hasna lief rot an, alle anderen prusteten los. Genau in diesem Augenblick betrat Sidi Qasem den Raum, gefolgt von einem anderen Mann. Cat saß mit dem Rücken zur Tür, sodass sie nur an dem eintretenden Schweigen und der Art, wie die Frauen sich hastig verschleierten, erkannte, dass sie Besuch bekommen hatten. Dann zog sie selbst den Schleier vor das Gesicht und wandte sich um.
Robert Bolitho betrachtete die Szene, die sich vor ihm auftat: ein Dutzend einheimische Frauen in einer Art Nähzirkel, alle verschleiert, sodass nur ihre leuchtenden dunklen Augen zu sehen waren. Und eine, deren blasse Hand sich gesenkt hatte, um ein Gesicht zu enthüllen, das er in seinen Träumen vor sich gesehen hatte. Dieses Gesicht hatte ihn zu seiner Reise über den Ozean veranlasst, und er hatte es sich immer wieder vorgestellt, um daraus die Kraft zu ziehen, sein Schicksal zu ertragen. Es war ihr Gesicht, und war es doch nicht. Es waren ihre Augen, dasselbe helle, auffallende Blau, aber es waren nicht die Augen des jungen Mädchens, das er vor all den Monaten vor der Kirche
von Penzance hatte stehen lassen. Nicht nur die exotische Art, wie sie diese Augen geschminkt hatte, machte sie zu einer Fremden, sondern etwas Tieferes und Beunruhigenderes in ihrem Ausdruck. Und mit einem Mal erfasste ihn eine größere Angst als je zuvor.
Cat starrte auf die zerlumpte, knochige Gestalt, die Sidi Qasem überragte. Das Gesicht des Mannes war hager und von der Sonne verbrannt, hohlwangig, die Nase seltsam verkrümmt. Der blonde Haarschopf war verschwunden, und an seine Stelle waren raue Stoppeln getreten, die an ein abgeerntetes Weizenfeld erinnerten. Doch die Augen waren noch genauso kornblumenblau, wie sie immer gewesen waren, groß und unverstellt, die Augen des Jungen, um den sie in Cornwall ihre bösen Ränke gesponnen hatte.
»Rob, oh, Rob, was haben sie mit dir gemacht?« Sie stand auf. »Haben sie dich auch verschleppt?«
Er lachte bitter. »Aye, das könnte man sagen, obwohl es nicht ganz so war, wie du es dir wahrscheinlich vorstellst, denn ich wurde nicht da, sondern erst hier gefangen genommen. Ich hatte sogar ein wenig Geld für deine Befreiung dabei - Mistress Harris hatte mir welches gegeben, und die Countess hat dein Altartuch gekauft. Es tut mir leid, dass ich es ihr gegeben habe, Cat, vor allem, weil es noch gar nicht fertig war, aber etwas anderes fiel mir nicht ein - auch das haben sie mir weggenommen, und den Ring.« Dann versagte ihm die Stimme; er war es nicht mehr gewohnt, sie zu benutzen.
Der raïs mischte sich ein. »Er spricht wahr, Cat’rin. Er kam mit einem englischen Schiff, um das Lösegeld für dich zu bezahlen, und wurde selbst hintergangen. Die Engländer sind eine treulose Rasse.« Seine Stimme war hart, tonlos, die Stimme eines Mannes, der nur mit Mühe seine Gefühle im Zaum hält. Er zögerte und ließ den Blick zwischen den beiden hin- und herschweifen. »Ich habe ihn gefunden im Sklavenkerker, aber
er ist nicht mehr Sklave. Ich habe ihm die Freiheit geschenkt, und jetzt schenke ich sie auch dir. Du bist nicht mehr Sklavin - meine Sklavin -, du bist frei. Du kannst mit ihm gehen, wenn du willst. Es ist deine Entscheidung.«
Cat spürte, wie sein Blick sie verbrannte, trotzdem konnte sie ihn nicht ansehen. Es war zu viel, zu fremd. Sie fühlte sich benommen, verloren, als wäre sie aus sich selbst herausgestiegen und blickte jetzt aus einem anderen Blickwinkel auf das Tableau im Raum - auf den großen Korsarenkapitän, so grausam und selbstbewusst, angespannt schweigend, auf den abgemagerten Engländer, der auf seine alte, vertraute Art dastand und die Hände rang, und auf das junge Mädchen, das sie einmal gewesen war, in dem eleganten Kaftan und mit Khol umrandeten Augen - alle drei durch das unsichtbare Netz des Schicksals miteinander verwoben.
Sie war nicht mehr sie selbst, nicht mehr in dieser Stickwerkstatt, im Haus dieses Händlers, in seiner wehrhaften Stadt, in diesem fremden Land.
Sie stand vor dem Baum der Erkenntnis, seine Wurzeln waren tief in der Erde vergraben, der dicke Stamm nahm ihr das Licht, seine Äste reckten sich
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