Die Zehnte Gabe: Roman
möglich …
Sie vergaß ihre Kopfschmerzen und sprang auf. Mittlerweile war eine Menschenmenge zusammengeströmt, um zuzusehen, wie der Ungläubige ausgepeitscht wurde, sodass sie sich nicht vergewissern konnte, ob sie sich geirrt hatte. Cat stürzte sich in
die Menge, schubste und drängte sich rücksichtslos vor, bis jemand sie am Arm packte und zurückzog.
»Was fällt dir eigentlich ein?«
Sie hatte immer geglaubt, Leila sei ihre Übersetzerin und Führerin, doch jetzt ging ihr plötzlich auf, wie naiv sie gewesen war: Die Holländerin sollte sie bewachen.
Cat riss sich los. »Ich kenne diesen Mann, den großen, da!«
Inzwischen hatte der Aufseher den gestürzten Mann bereits wieder auf die Beine gezwungen. Die Sklavenkarawane zog weiter, und Cat bekam die Gefangenen nur noch von hinten zu sehen. Ihre Rücken waren mit Striemen bedeckt, und ihre Rippen zeichneten sich unter der Haut ab wie bei halb verhungerten Eseln. Dann waren sie verschwunden. Sie stand da und presste die Hände auf den Mund, während sich die Menge auflöste. Wahrscheinlich wurde sie langsam verrückt. Einen Augenblick lang hatte sie geglaubt, ihren Vetter zu sehen. Aber das war unmöglich, Robert Bolitho war zweitausend Meilen entfernt in Cornwall.
Doch was , meldete sich eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf, was, wenn die Korsaren einen neuen Beutezug unternommen hatten? Dasselbe fragte sie Leila, die lachte jedoch nur. »Kein Schiff läuft in dieser Jahreszeit aus. Starke Winde vom Meer machen es unmöglich, wieder in den Hafen zurückzukehren. Bis Mai wird es keine neuen Überfälle geben.«
Dennoch wollte Cat das Bild des Mannes nicht aus dem Kopf, der genauso dagestanden hatte wie ihr Vetter, mit derselben Haltung und denselben breiten Schultern, und alle anderen Männer um gute zwanzig Zentimeter überragte. Obwohl sie sein Gesicht nicht genau hatte sehen können, war sie mehr und mehr davon überzeugt, dass er es gewesen war. Am Ende verfolgte sie das Bild eines gefesselten und misshandelten Robert Tag und Nacht.
Als der raïs eine Woche später erneut zum Haus kam, suchte Cat ihn auf. »Darf ich Euch auf ein Wort sprechen?«, bat sie mit gesenktem Kopf.
Er führte sie in den Salon, und dort erzählte sie ihm, was sie im Souk gesehen hatte. Er antwortete nicht, und plötzlich hatte sie das Gefühl, er wüsste, was sie sagen würde. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, und sein Blick war so hart wie Flintstein. In dem Moment erinnerte er sie wieder an den Mann, der Prediger Truran ein Kreuz auf die Fußsohlen hatte brennen lassen.
»Ich wollte nur wissen, ob Ihr etwas für mich herausbekommen könntet«, fuhr sie hastig fort, ehe ihr Mut sie verließ. »Nämlich, ob es unter den englischen Sklaven einen Gefangenen namens Robert Bolitho gibt.«
Er saß reglos da. Zuletzt fragte er langsam: »Warum sollte ich so etwas tun? Was bedeutet er für dich?«
»Er ist mein Vetter«, antwortete Cat fest.
Sidi Qasem lehnte sich an die Wand, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt wie die einer Katze, und winkte ab. »Ich mische mich nicht in Angelegenheiten anderer.« Dann bückte er sich nach seiner Wasserpfeife und fing an, sie mit großem Getue zu reinigen, zu stopfen und anzuzünden.
»Bitte«, sagte Cat noch einmal. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie es kaum herausbrachte.
Er würdigte sie keines Blickes, sodass sie sich schließlich umwandte und den Salon verließ.
Mehrere Tage vergingen in einem Nebel von Arbeit und Geplauder, doch der raïs kam nicht wieder. Er schickte einen seiner Sklaven mit den Aufträgen aus dem Haus auf der anderen Seite des Flusses. Cat hatte das Gefühl, dass er ihr aus dem Weg ging, und war sehr unhöflich zu dem Jungen, schickte ihn sogar weg, ohne ihm eine Erfrischung anzubieten. Er hatte ihr ein hübsches ärmelloses Gewand gebracht, das von oben bis unten bestickt werden sollte; einen ehemals prächtigen Bettbehang, der ausgebessert werden musste, und den Auftrag für einen Brautschleier mit der ausdrücklichen Anweisung, dafür nur
feinsten Batist und kostbarste Seide zu benutzen. Ob der für seine Base Khadija ist?, fragte sich Cat und musste die Erinnerung an Leilas Worte mit aller Macht unterdrücken.
Sie setzte drei ihrer besten Schülerinnen für das Gewand ein, gab den Bettbehang Habiba, Latifa und Jasmina und übernahm den Schleier selbst.
Leila ging zum Souk und kaufte ein Stück weichen, weißen Batist, während Cat sich mit Hasna und zwei älteren
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