Die Zehnte Gabe: Roman
was?« Das fand ich nicht. »Und, Gott sei Dank, muss ich mich nicht mehr jeden Morgen übergeben, das kritischste Stadium ist vorbei, die Ultraschallbilder waren normal …«
»Mädchen oder Junge?«
»Ich habe nicht gefragt. Es ist besser, wenn man nicht weiß, was die Zukunft bringt, glaube ich. Ich lerne gerade, das Leben so zu nehmen, wie es kommt.«
Ich lächelte. Anna veränderte sich. Vielleicht taten wir das ja alle.
»Bist du so weit?«, fragte Alison und unterbrach meine Grübeleien.
»Ich war noch nie im Leben so fest zu etwas entschlossen.« Ich hob einen kleinen flachen Stein auf, stand auf und ließ ihn über das Wasser Richtung St. Clement’s Island flitschen. Sechs Mal berührte er die Oberfläche, bevor er in den Wellen versank. »Ich wollte sieben schaffen, verdammt!«, schimpfte ich.
»Sechs für Gold«, lachte Alison. »Kommt mir gar nicht übel vor.«
»Wie in dem Abzählreim, meinst du?«
»Das haben wir doch immer so gesagt. Allerdings gibt es noch eine andere Version, die Andrew immer gern zitiert hat; sie stammte vom schottischen Zweig seiner Familie: ›Eins für Sorge, zwei für Freude, drei für eine Hochzeit, vier für eine Geburt, fünf für den Himmel, sechs für die Hölle und sieben für den Teufel in Person.‹ O je!«
»Na prima. Die Hölle«, sagte ich entmutigt. »Ist vielleicht doch keine gute Idee.«
»Also, für mich brauchst du es jedenfalls nicht zu tun«, sagte Alison fest. »Ich setze nie wieder einen Fuß in das Haus. Als ich die Briefe las, bin ich beinahe ausgerastet. Willst du das wirklich tun?«
»Ich muss. Irgendwie fühle ich mich … verantwortlich. Ich weiß, es klingt verrückt.«
Eine Viertelstunde später standen wir vor dem Farmhaus von Kenegie. Die Sonne fing gerade an, unterzugehen.
»Hast du alles?«
Hatte ich: Taschenlampe, Feuerzeug, Kerze, Brot, Salz, Wasser. Und Robert Bolithos Briefe, verschnürt mit einem feinen, bestickten Band, das Lalla Mariam mir geschenkt hatte. Die Briefe waren die Originale. Als ich Anna erklärt hatte, was ich tun wollte, hatte sie mich ausgelacht, aber dann auf diesen Teil unserer Abmachung verzichtet. »Mach mir Kopien, aber gute.« Das hatte ich ihr versprechen müssen. »Michael wird toben!« Die Stickerei stammte aus derselben Hand wie der Brautschleier und trug Catherines Thema als Markenzeichen. »Damit hat sie sich vermutlich im Hamam das Haar zusammengebunden«, hatte mir die alte Dame mit Idriss’ Hilfe erklärt. Als ärmliche Gegenleistung für so viel Großzügigkeit hatte ich ihr meinen mit Pfauenfedern bestickten Schal geschenkt und versprochen, die letzte Ecke mit einem Motiv zu vervollständigen, das sie sich selbst aussuchen sollte.
So ließ ich Alison auf der Kühlerhaube sitzen und betrat das Haus. Meine Schritte hallten durch die leeren Räume. Beim Hinaufgehen schaltete ich überall die Lampen an, und blieb am Fuß der Speichertreppe stehen.
Dann biss ich die Zähne zusammen und stieg die Stufen empor.
Die Lampe auf dem Dachboden war - wie konnte es anders sein - die einzige im ganzen Haus, die nicht funktionierte. Ich zündete die Kerze an und stellte sie auf Andrews Schreibtisch. Im goldenen Schein ihrer Flamme arrangierte ich das Brot, ein Häufchen Salz und eine kleine Flasche mit Weihwasser aus dem Becken der Gulval Church. Wärme, Wasser und Nahrung: das, was die Toten am meisten vermissen, wonach sie sich am stärksten sehnen. So hatte meine Mutter es mir in ihren Gespenstergeschichten
an Allerheiligen immer erzählt. Dann legte ich Robert Bolithos Briefe dazu.
Ich holte tief Luft und fing an: »Robert Bolitho, wenn du da bist, hoffe ich, dass du mich hörst. Mein Name ist Julia Lovat. Möglicherweise sind du und ich entfernte Verwandte, ich weiß es nicht. Aber das ist wahrscheinlich auch nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass ich dir deine Briefe zurückgebracht habe. Es tut mir leid, dass wir deine Ruhe gestört und sie gelesen haben. Ich weiß, dass du in einem Postskriptum Matty gebeten hattest, sie zu verbrennen, doch sie hat es wohl versäumt, fürchte ich. Und ich kann es sogar verstehen: Frauen bewahren vieles auf, selbst Dinge, die schmerzhafte Erinnerungen bergen. Es war nicht recht von ihr zuzulassen, dass sie anderen in die Hände fielen, aber du kannst es ihr nicht wirklich vorwerfen oder uns, dass wir sie gelesen haben. Weil es so ist, Robert, weiß ich, dass du ein anständiger, tapferer Mann bist. Trotzdem hättest du Andrew Hoskin das nicht antun dürfen, und
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