Die Zehnte Gabe: Roman
eine Prise Salz über die linke Schulter, um den Teufel auf sicherer Distanz zu halten.
Als ich wieder nach draußen kam, klapperte ich mit den Zähnen und zitterte wie Espenlaub. Alison warf mir einen Blick zu, zog ihr Jackett aus und legte es mir um die Schultern. »Alles erledigt?«, fragte sie.
»Ich glaube ja.« Ich lächelte matt. Wer wusste das schon?
So standen wir im Garten, meine Cousine hatte mir den Arm
um die Schultern gelegt, und ich sah hinaus auf das Meer in der Ferne, das vom letzten, stumpfen Glanz der untergegangenen Sonne gefärbt war. Als imposante, romantische Silhouette erhob sich St. Michael’s Mount in der Bucht, genauso wie an jenem schicksalhaften Julitag des Jahres 1625, als Al-Andalusis Flotte die Flagge mit den Halbmonden und gekreuzten Knochen hisste und sich unerkannt an seinen schlecht befestigten Wachttürmen vorbeistahl.
Ich schloss die Augen vor der Erinnerung. Am Ende lächelteich.
In weniger als drei Wochen, gerade wenn mein Henna vollkommen verblasst wäre, würde auch ich zurück nach Marokko fahren, der Insel im Westen.
Insh’allah .
Liebe Leserin, lieber Leser,
In unserer Familienlegende wird von einer Vorfahrin berichtet, die im 17. Jahrhundert von Berberpiraten aus einer Kirche in Cornwall verschleppt und in Nordafrika als weiße Sklavin verkauft wurde. Ich glaubte kein Wort davon, bis 2004 White Gold von Giles Milton erschien. Darin erzählter von einem Piratenüberfall im Jahre 1625 auf Penzance. Es sah so aus, als wäre diese unglaubliche Geschichte wahr! Was für ein großartiger Stoff für einen Roman, dachte ich - und flog nach Marokko, um zu recherchieren.
Der Einzige, der Zeit hatte, mich zu begleiten, war mein Bergsteiger-Partner Bruce. Ich konnte ihn mit dem Versprechen überreden, in Marokko auf Klettertour zu gehen, sobald ich meine Recherchen in Rabat und Salé abgeschlossen hatte. So landeten wir schließlich in Tafraout, einem abgelegenen Berberdorf in den Ausläufern des Anti-Atlas. Kurz nach unserer Ankunft fing es an zu regnen und hörte drei Tage nicht mehr auf. Also machte ich mir Notizen für das Buch und suchte nach markanten »Gesichtern«. Als wir in einem Restaurant im Ort dem eindrucksvollen Besitzer Abdel Bakrim mit seinem traditionellen Turban und dem langen Gewand begegneten, sagte ich zu Bruce: »Das wird mein Piratenanführer.«
Schließlich klarte es auf, und wir brachen zum berühmten Löwenkopf mit seinem besonders schwierigen 1500 Meter langen Aufstieg in der Fassade auf. Doch wir hatten nicht mit den Auswirkungen des Wetters gerechnet. Sturzbächen und
Schlammlawinen auszuweichen, dauerte sehr viel länger, als wir geplant hatten. Schließlich brach die Dämmerung herein. Auf dem Gipfel lag Schnee bis weit in die Dunkelheit darunter. Wir hatten nur die Kleider, die wir am Leib trugen und keine Wahl: Die Nacht hatte uns überrascht.
Die Nächte in den Bergen von Marokko sind extrem kalt, und es war Februar: Es dauerte nicht lange, bis sich die ersten Anzeichen von Unterkühlung bemerkbar machten. Schließlich rief ich im Restaurant an; es war die einzige Telefonnummer aus der Gegend, die ich hatte. Ich bat Abdel, allen zu sagen, dass es uns gut ginge, wir allerdings im Gebirge festsäßen. Er war zu Tode erschrocken und versprach, seine Freunde zusammenzutrommeln, um uns zu Hilfe zu kommen. Ich bedankte mich und erklärte, dass das angesichts unserer Position (auf halber Höhe einer Steigung, die nur von Experten und bei Tageslicht zu bewältigen ist) so gut wie ausgeschlossen war. Er lief die ganze Nacht hin und her, beobachtete den Berg und betete für unsere sichere Rückkehr.
An Schlaf war nicht zu denken: Der Vorsprung war klein und gefährlich; außerdem war es eiskalt. Ich dachte an meinen Job im Verlag, an London, Sitzungen, Vertreterkonferenzen und so weiter, und alles erschien mir weit weg und unwichtig. Sollte ich überleben, das schwor ich mir, würde ich den Roman schreiben, aus meinem Fulltime-Job aussteigen und ein neues Leben beginnen. Ich wusste nicht genau, was das alles mit sich brächte, aber das Gesicht meines »Piratenanführers« geisterte die ganze lange Nacht durch meine Wachträume.
Als am nächsten Tag die Sonne aufging, begannen wir den Abstieg und seilten uns mit erfrorenen Händen in bodenlose Abgründe ab, ohne weiter als bis zum Ende des Seils sehen zu können. Wir brauchten fünf endlose Stunden, um als Erste einen Fluchtweg durch eine zuvor noch nie bestiegene Spalte zu finden.
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