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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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meine Cousine Hasna wird dir später die Hände mit Henna anmalen …«
    Ich hörte kaum, was er sagte. Das Licht aus dem nicht verdunkelten Fenster fiel auf Lalla Mariam, die kerzengerade dastand und ein Stück schimmernden Stoff inspizierte. Doch nicht das Tuch in ihrer Hand weckte meine Aufmerksamkeit, sondern ihr Gesicht, als sie mich ansah. Unten im Halbdunkel des Salons hatte ich den Eindruck einer würdevollen alten Dame mit silbernem Haar gehabt, das ein schmales Gesicht mit glatter dunkler Haut umrahmte. Jetzt fiel die Sonne direkt auf sie, und ich hielt den Atem an.
    »Ja, unglaublich, nicht?«, sagte Idriss. »Ich wusste, dass es dir gefallen würde, es ist wunderschön gearbeitet. Jeddah ist sehr stolz darauf und zeigt es mit Freude herum …«
    Mühsam riss ich mich vom Gesicht der Großmutter los und sah auf das, was sie aus den Bergen mitgebracht hatte. Es war ein
großes Stück brokatartige Seide, dessen Kanten über die ganze Länge von oben und von unten mit einem wunderschönen Muster bestickt waren. Hunderte von Farnen und ihren stilisierten Wedeln rollten sich einer unsichtbaren Sonne entgegen, hier und da mit winzigen rosa Blüten und goldenen Blumen verziert. Die Farne waren sauber, beinahe geometrisch exakt ausgeführt; sie bildeten einen Rahmen, durch den sich vereinzelte Wildrosen rankten. Aber es waren die kleinen goldenen Blüten mit den stachligen Stängeln, bei denen mir das Herz stockte.
    »Das ist Stechginster«, sagte ich und erinnerte mich an die Krone, die Robert Bolitho für das Mädchen gemacht hatte, das er liebte. Die Knospen und Blüten waren so ungewöhnlich realistisch gestickt, dass ich beinahe ihr durchdringend süßes Aroma riechen konnte - wie warmes Marzipan -, das aus dem Tuch stieg.
    »Stechginster?«
    »Diese Blume hier. Sie wächst überall auf den Hügeln und Klippen von Cornwall. Es ist ein wilder und stachliger Strauch - kein besonders verbreitetes Motiv für eine Stickerei.«
    Idriss übersetzte es seiner Großmutter. Sie hatte die ganze Zeit dagestanden und mich mit ihren leuchtenden Augen unverwandt angesehen. Nun sagte sie etwas, sehr schnell, woraufhin Idriss antwortete. Dann stellte er selbst eine Frage, auf die sie etwas entgegnete, und schon schnatterten sie durcheinander wie zwei Elstern.
    Am Ende wandte er sich zu mir. »Jeddah behauptet dreierlei. Erstens, dass diese Pflanze - dieser Strauch - auch hier an der Küste des Atlantiks beheimatet ist. Zweitens, dass sich der Schleier - es ist ein Brautschleier - seit Generationen im Besitz der Familie befindet, doch niemand weiß, wo er herkam oder wer ihn gemacht hat, obwohl wir immer Frauen in der Familie hatten, die ein Talent für Handarbeit hatten. Drittens, dass dieser Stil aleuj heißt. Er ist eine Mischung aus traditioneller Berberkunst - sehr dicht, präzise und geometrisch - mit
einem eher flüssigen und realistischen europäischen Stil. Aleuj im klassischen Arabisch bedeutet ›anders‹ oder ›fremd‹ oder sogar ›Fremder‹, aber es kann auch jemanden bezeichnen, ›der zum Islam konvertiert‹ ist. Die frühesten bekannten Beispiele stammen aus dem siebzehnten Jahrhundert.«
    Dann setzte die alte Frau noch etwas hinzu, sehr eindringlich; sie wiederholte es drei Mal, damit Idriss es verstand.
    »Sie sagt, dass hier in Rabat einmal eine Frau gelebt hat, die als Meisterstickerin bekannt war. Sie hieß Zahrat Chamal.«
    Ich sah ihn verständnislos an.
    »Das ist ein angenommener Name, kein normaler«, sagte er. »Er bedeutet Blume aus dem Norden.«
    War Catherine zu Zahrat geworden, als sie zum Islam übertrat und ihren raïs heiratete? Bedeutete ›Chamal‹ nur aus dem Norden von Marokko, oder konnte es darüber hinausgehen? War Zahrat Chamal der moslemische Name, den sie angenommen hatte, nachdem sie ihren Glauben gegen einen anderen eingetauscht hatte, so wie Will Martin zu Ashab Ibrahim geworden war? Vielleicht hatte die Wahrsagerin auf Kenegie am Ende doch recht gehabt, als sie ihr prophezeite, dass sie ›nicht als Catherine in dieser Welt‹ heiraten würde. Ich inspizierte die Stickerei auf dem Brautschleier: elegant und präzise, ein feiner, leicht schräg stehender Plattstich, genau wie auf dem Altartuch der Countess of Salisbury. Nicht, dass es irgendwas bewiesen hätte - alle Welt verwendete Plattstich, sogar ich selbst. Ich stellte mir vor, dass Cat von Kopf bis Fuß in diesen Schleier gehüllt war, wie die Frauen auf den Bildern, die ich gesehen hatte, mit einer silbernen

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