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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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konzentriert verputzten sie im Nu die Reste des Huhns.

    »Es heißt, eines Tages habe der Prophet in seinem Garten gesessen«, erzählte mir Idriss, während wir ihnen beim Fressen zusahen, »doch als es Zeit wurde, aufzubrechen und seine Gebete zu sprechen, merkte er, dass seine Katze Muezza auf dem Ärmel seines Gewands eingeschlafen war. Es war dieselbe Katze, die ihn einmal vor einer Schlange gerettet hatte. Statt sie im Schlaf zu stören, schnitt er den Ärmel seines Gewandes ab und ging seinen Geschäften nach.«
    Ich lächelte und sah zu, wie die Katzen die Schale ausleckten und dann mit erhobenem Schwanz davonschlenderten. Es war eine zauberhafte Geschichte. Wie schön musste es sein, eine Katze zu sein und sich darauf verlassen zu können, dass die Welt immer für einen sorgen würde.
    In diesem Moment klingelte Idriss’ Handy. Er klappte es auf und sprach laut hinein, lachend und fröhlich. Als er fertig war, glänzten seine Augen. »Jeddah ist aus den Bergen zurück. Sie wartet darauf, dich kennen zu lernen.«
     
    Ich weiß nicht, wie ich mir Idriss’ Großmutter vorgestellt hatte, aber als ich sie zum ersten Mal im Salon stehen sah, hielt ich sie für eine Besucherin. »Das ist Lalla Mariam«, sagte Idriss stolz, und dann umarmte er sie und überschüttete sie mit einem Schwall von Berberisch, in dem ich zwei Mal meinen Namen erkannte -Julia -, isoliert wie Inseln in einem unverständlichen Klangmeer.
    Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass sie mich in die Arme schloss. Nicht gerade eine zerbrechliche alte Dame, dachte ich, als ich die festen Muskeln und starken Knochen spürte, die sich an mich drückten. Sie hieß mich willkommen - marhaban, marhaban -, und dann folgte erneut ein Redeschwall, von dem ich kein Wort verstand. Am Ende flog sie durch das Zimmer, und ich hörte ihre Schritte auf der gekachelten Treppe klappern, rasch und sicher, wie die Hufe einer Bergziege.
    Ich starrte Idriss an. »Deine Großmutter ist ja eine echte Naturgewalt! Wie alt ist sie?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Keiner weiß es. Wir sprechen nicht so oft darüber. Als sie zur Welt kam, gab es noch keine Geburtsurkunden oder sonstige Dokumente. Jeddah selbst hat keine Ahnung, wie alt sie ist. Wir zählen unser Leben nicht in Jahren, wie man es im Westen macht.«
    »Wie alt ist denn deine Mutter? Jeddah ist doch die Mutter deiner Mutter, oder?«, bohrte ich.
    Er nickte, musste aber auch darüber erst einmal nachdenken. Während ich wartete, fiel mir auf, wie anders diese Kultur war als meine eigene, in der jeder Zeitungsartikel Alter und Namen desjenigen verrät, von dem er handelt, ganz gleich, wie unwichtig ein solches Detail sein mag.
    »Ich … glaube, dreiundsechzig.«
    »Und wie viele Brüder und Schwestern hat deine Mutter?«
    Er zählte sie an den Fingern ab. »Zwölf. Meine Mutter war die siebte.«
    Ich überschlug die Zeiten. Ich hatte gelesen, dass Frauen in den Bergregionen häufig sehr jung heiraten, aber selbst dann und unter Berücksichtigung der möglichen Lücken zwischen den Geburten waren es … »Liebe Güte. Fünfundachtzig mindestens.«
    »Sie ist erstaunlich, nicht? Komm mit nach oben, sie hat etwas mitgebracht, was du dir ansehen solltest.« Er reichte mir seine Hand, und so gingen wir zusammen die Treppe hinauf.
    Im obersten Stock, gegenüber von Idriss’ Zimmer stand eine Tür offen, und dahinter hörten wir jemanden singen. Ich blieb am Treppenabsatz stehen, weil ich nicht stören wollte. Einen Moment später fiel Idriss ohne jede Spur von Befangenheit ein und überraschte mich mit einer wohl klingenden Tenorstimme, die einen reizvollen Kontrapunkt zu der höheren Stimmlage der alten Frau bildete. Ich dachte an die Vögel, die wir in der Medina
gehört hatten, wie sie sich über die uralten Mauern hinweg etwas zugesungen hatten.
    »Übersetz mir den Text«, bat ich, als sie fertig waren.
    Gott teilte die Schönheit und verlieh sie an zehn:
Henna, Seife und Seide - das sind die ersten drei.
Pflug, Vieh und Bienenstock -
Das macht sechs.
Die Sonne, wenn sie über den Bergen aufgeht -
Das macht sieben.
Die Mondsichel, schmal wie die Klinge eines Christen -
Das macht acht.
Mit Pferden und Büchern kommen wir auf zehn.
    Er hob meine Hand an seine Lippen. »Du wirst mit Schönheit beladen sein, wenn du uns verlässt und in deine graue alte Stadt zurückkehrst«, versprach er und stieß die Tür auf. »Deine Seide hast du schon, Jeddah hat Arganseife aus den Bergen mitgebracht, und

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