Die Zehnte Gabe: Roman
sich plötzlich ohne jede Erklärung oder Vorwarnung verabschiedet, nicht nur von der Beziehung, sondern von der ganzen Welt, unwiderruflich und für immer? Wie schlecht ihre Ehe auch gewesen sein mochte, was hatte den sonst so fröhlichen und dickfelligen Andrew dazu getrieben, sich auf so grausame Art das Leben zu nehmen, noch dazu in dem Haus, das die beiden vor langer Zeit zusammen gekauft und aus einem Chaos von Schmutz, Schimmel und morschem Holz hatten wiederauferstehen lassen?
Als ich endlich das Licht ausknipste und einschlief, träumte ich weder von Alison noch davon, wie Andrew an einem Balken baumelte. Ich träumte von Cat Tregenna. Irgendetwas lag in der Luft, etwas Schreckliches, doch worin die Bedrohung genau bestand, bekam ich nicht zu fassen, und auch die Gefahr, in der sie schwebte, sah ich nicht. Immer wieder hallten die Worte »Herr, errette uns!« durch meinen Kopf, und als ich aufwachte, war ich ziemlich durcheinander. Normalerweise werde ich langsam wach, wie ein Taucher, der aus großer Wassertiefe an die Oberfläche zurückkehrt, aber an diesem Morgen war es anders. Meine Haut fühlte sich gereizt und kribbelig an, als hätte mich jemand im Schlaf beobachtet. Plötzlich war ich so besessen von dieser Vorstellung, dass ich das Bettzeug zur Seite warf, aus dem Bett sprang und mich verstört umsah, als könnte ich einen Eindringling auf frischer Tat ertappen. Natürlich war niemand da. Ich verwünschte mich selbst für ein so albernes, neurotisches Verhalten, machte mir einen Kaffee und rief erneut bei Alison an.
Diesmal nahm sie ab.
»Hallo?« Ihre Stimme klang dünn und schwach, als käme sie durch eine sehr wacklige Leitung aus weiter Ferne.
»Alison, ich bin es, Julia. Hör zu, mein Fauxpas gestern tut
mir wirklich leid, ich habe nicht gedacht …« Ich verstummte; mir fiel einfach nichts Sinnvolles ein, was ich hätte sagen können.
»Schon gut. Ich konnte nicht mehr mit dir sprechen - mit niemandem. Ich musste weg von allem, von ihm, dem Haus.«
»Aber jetzt bist du wieder da«, bemerkte ich blödsinnigerweise.
»Ja.« Sie klang unsicher.
»Hör mal«, sagte ich rasch und ohne groß nachzudenken. »Was hältst du davon, wenn ich komme und dir bei der Beerdigung und so weiter helfe? Du könntest mal innehalten, hättest jemanden zum Ausheulen - egal, was. Es ist kein Problem, ich habe hier nichts Wichtiges zu tun.«
Es folgte eine lange Pause. Dann: »Würdest du das wirklich tun? Ich halte es hier nicht aus. Kommst du? Heute noch?«
»Na klar«, sagte ich. Nach ein paar Minuten, in denen wir praktische Details besprachen, legte ich auf. Plötzlich wurde mir das Herz schwer. Warum hatte ich ihr das angeboten? Eigentlich wollte ich diese weite Reise gar nicht machen - ans Ende der Welt, so kam es mir vor. Da unten in Cornwall warteten irgendwelche Geister auf mich, und den von Andrew hatte ich nicht einmal mitgezählt.
Nichtsdestotrotz war ich zwei Stunden später in Paddington und kaufte einen Fahrschein mit offener Rückfahrt nach Penzance.
Es war beinahe drei Jahre her, seit ich zum letzten Mal in meinem Heimatcounty gewesen war. Damals war ich oft hin-und hergependelt, um meine Mutter zu besuchen; es war eine besonders dunkle Zeit in meinem Leben gewesen. Meine Mutter, die bis zu ihrem letzten Lebensjahr eine bemerkenswert rüstige und energische Frau gewesen war, mit sechzig Marathon lief und mit siebzig noch schwimmen ging, hatte unvermutet einen Schlaganfall gehabt und in diesem Moment, so sah es aus, nicht nur die Kontrolle über eine Hälfte ihres Körpers, sondern
auch über ihre Unabhängigkeit und ihre ganze Persönlichkeit verloren. Am Ende war sie in einem Pflegeheim gelandet, wo es nach Putzmitteln und Urin stank.
Es war mein schlechtes Gewissen, das mich zu den häufigen Fahrten bewegt hatte, mein schlechtes Gewissen und die Angst: ein kaum unterdrücktes Entsetzen angesichts der Erkenntnis, dass uns so etwas letzten Endes allen bevorsteht. Und meine Mutter hatte zumindest ein paar tröstliche Augenblicke gehabt, denn als sie immer schwächer wurde, hatte sie Freunde und Angehörige um sich. Als ledige Frau ohne Kinder hegte ich die schlimmsten Befürchtungen, wenn ich ans Alter oder den körperlichen und geistigen Verfall dachte, obwohl ich erst dreiunddreißig war. In meiner Not hatte ich mich an Michael geklammert, was bald dazu geführt hatte, dass er nächtlichen Anrufen aus dem Weg ging und öfter als früher verreiste. Ich hatte den Verdacht gehegt, dass
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