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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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er alles unternahm, um nur ja nicht meinen Schmerz teilen oder sich meine Sorgen anhören zu müssen. Es hatte ein paar Monate gedauert, bis mir aufgegangen war, dass ein direkter Zusammenhang zwischen meinem Verhalten und seiner häufigen, sowohl räumlichen als auch emotionalen Distanz bestand, aber selbst da hatte es mir an Verstand gefehlt, um die Beziehung als das zu sehen, was sie tatsächlich war.
    Als der Zug durch den Bahnhof von Liskeard fuhr, auf der hübschen kleinen Nebenstrecke, die dem kurvenreichen Flusstal durch sanfte, bewaldete Hügel bis Looe am Meer folgte, fiel mir wieder ein, wie Michael einmal meinem Drängen nachgegeben hatte und übers Wochenende mitgekommen war. Seine Familie war vor langer Zeit aus St. Austell weggezogen. Cornwall bedeutete ihm nichts außer üblen Erinnerungen an die Schule und Camping-Ausflüge ins Moor, wie er mir unmissverständlich erklärte. Ich erinnerte mich, wie ich in Tränen aufgelöst von einem Besuch im Pflegeheim meiner Mutter zurückgekommen war und er, statt mich aufzufangen, unvermittelt zu einem langen Spaziergang aufgebrochen war, während ich mich, allein
im Hotelgarten sitzend, gefragt hatte, ob er je wiederkommen würde. Bestimmt war ich allein besser dran als mit einem so schwachen und selbstsüchtigen Mann, sagte ich mir nun. Eine ganze Weile waren meine Gedanken ebenso düster wie das Moor, durch das der Zug fuhr, und ich konnte mich nicht auf den Wandbehang konzentrieren, an dem ich unterwegs hatte weitersticken wollen, um mir die Zeit zu vertreiben.
    Doch als sich der Zug dann Camborne näherte und ich die Ruinen der ehemaligen Bergwerksanlagen am Horizont erkannte, ging mir auf irritierende Weise das Herz auf. Mit Farnkraut und Stechginster bewachsene, windgepeitschte Hügel und einsame Heidelandschaften, unterbrochen von Hinkelsteinen und Grabhügeln, wichen allmählich sanfthügeligen Feldern, hinter denen ich einen unermesslichen leeren Raum spürte. Irgendetwas an der Qualität des Lichts - hell und klar - wies auf die unmittelbare Nähe des Meeres hin. Knapp über dem Horizont lag das Ende der Strecke oder im wahrsten Sinne des Wortes das Ende des Landes.
    Von hier stammte unsere Familie, ein tief in Cornwall verwurzelter Clan, aus West Penwith, der westlichsten Spitze Englands. Meine Mutter hatte es immer als das »echte Cornwall« bezeichnet, als wäre der Südosten bloß für Zugezogene und County-Verräter da, Leute, die sich mehr an Devon (Gott behüte!) und der modernen Welt denn an Cornwalls uralter Geschichte als unabhängiger Staat mit eigener Sprache, eigenem König und eigenen Gesetzen orientierten. Unsere Vorfahren waren Zinnproduzenten gewesen, bevor die gesamte Industrie auf katastrophale Art zusammengebrochen und damit das Familienvermögen verloren gegangen war. Viele hatten sich über den ganzen Erdball verstreut - nach Argentinien, Australien, Kanada und Chile - überall hin, wo sich mit ihrem Fachwissen Geld verdienen ließ.
    Ich hatte kaum Kontakt mit den wenigen Familienangehörigen gehabt, die heute noch auf dieser Landspitze lebten. Einige
Cousins dritten und vierten Grades waren zur Beerdigung meiner Mutter gekommen, aber viel hatten wir einander nicht zu sagen gehabt, abgesehen von den üblichen Beileidsbekundungen. Alison kannte sie besser als ich. Sie hatten echte kornische Namen - Pengelly und Bolitho, Rowse und Tucker - und führten ein Leben, das fünfzig Jahre und einen Kontinent von mir entfernt war. Warum Alison und Andrew sich so weit weg von London niedergelassen hatten, war mir nie ganz klar gewesen, abgesehen von dem kleinen Skandal, den Andrew mit seiner Affäre verursacht hatte, doch als der Zug in den Bahnhof einfuhr, fing ich an, es zu verstehen. Alison hatte die Nähe ihrer Familie gebraucht, aber sie hatte auch gesagt, dass es eine Gegend voller Magie und mächtiger Energien wäre, als sie in diesen Teil von Cornwall gezogen war. Ich hatte sie im Verdacht, in ihrer neuen Umgebung Trost zu suchen und die Landschaft mit einer dringend benötigten Mystik zu verklären. Als sich jetzt in der weiten Bucht vor mir St. Michael’s Mount aus dem Wasser erhob wie ein Schloss aus legendären Zeiten, umkränzt von niedrigen Wolken und Nieselregen, sträubten sich meine Nackenhaare.
    Der Mount. Wie viele Male hatte ich diesen Namen in Catherines winziger, sauberer Handschrift in ihrem Buch gelesen? Ich starrte ihn an und spürte die Präsenz der Vergangenheit. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Liebe

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