Die Zehnte Gabe: Roman
Güte, wir fuhren in den Bahnhof von Penzance ein, und ich fühlte mich wacklig und einigermaßen nervös - nicht gerade die beste Verfassung, um meine arme Cousine zu begrüßen, die gerade einen schrecklichen Verlust erlitten hatte.
Doch ich wurde rasch in die wirkliche Welt zurückversetzt. Eine große, hässliche Bahnhofshalle aus viktorianischen Zeiten hieß mich willkommen, grau und abstoßend, sie und ein aufdringlicher kornischer Sprühregen, der sich in den wenigen Sekunden, die es dauerte, um vom Bahnsteig bis in die Halle zu gelangen, auf meine unbekleidete Haut legte und bis in die
Haarwurzeln kroch. Alison erwartete mich neben dem Bahnhofsimbiss, in dessen grellem Licht ihr blasses Gesicht einfach nur schrecklich aussah.
Wir umarmten uns unsicher, und ich spürte, wie ihr schlanker Körper zitterte. Während ich sie festhielt, dachte ich traurig an unsere Jugend, und wie dieses gewitzte, freche Ding - das vollgedröhnt mit Ecstasy durch den Stadtpark gestreift oder morgens um zwei im Friedhof von St. Nicholas, Deptford, herumgekrochen war, nach zu vielen Tequila Slammers, um noch laufen zu können, aber entschlossen, mir die Ehrenmäler für Kit Marlowe und den Schiffszimmermann John Addey aus dem siebzehnten Jahrhundert zu zeigen, auf Raves und Partys bis zum Morgengrauen getanzt und geschworen hatte, niemals alt zu werden - so zerbrechlich und unsicher hatte werden können. Das Haar hatte die ersten grauen Strähnen bekommen, und im Gesicht erkannte ich ausgeprägte Falten.
Während Alison und Andrew in Cornwall lebten, hatten meine Cousine und ich unsere Freundschaft mit langen Telefongesprächen und periodischen Besuchen ihrerseits in London aufrechterhalten. Dann entfloh sie ihrem Ehealltag und wohnte bei mir, und wir taten so, als flirteten wir mit den jungen Männern in den Pubs am Ufer der Themse. Sie hatte mich nie in ihr kornisches Haus eingeladen. Heute würde ich es zum ersten Mal sehen, abgesehen von den unzähligen Fotos, die sie vor und nach der Renovierung gemacht hatten.
Alisons und Andrews Haus lag nur wenige Minuten vom Bahnhof entfernt: eine weitläufige, umgebaute Farm in den Hügeln nordöstlich von Penzance. Sie hatte es von Anfang an geliebt, obgleich es verwahrlost und heruntergekommen war, nachdem seit Jahren niemand mehr darin gelebt hatte. Sie hatte praktisch Andrew dazu gezwungen, es zu kaufen, weil sie sah, welches Potenzial es besaß, und er, der einiges wiedergutmachen musste, hatte schließlich nachgegeben und sie mit dem Haus und seinem Geld machen lassen. Sie hatten immense
Energie, viel Fantasie und Zeit in ihr gemeinsames Heim gesteckt, was man sofort erkannte, wenn man in die Einfahrt einbog. Da war zum Beispiel die Gartenanlage - konzentrische Kreise aus Buchsbaumhecken umgaben Lorbeerbäume, Lavendelbeete und selbst verlegte Kieselwege, die zwischen den Beeten verliefen. Ein Brunnen stand in der Mitte einer mit glatten weißen Kieseln ausgelegten Sonnenterrasse, doch das Wasser war still und stumm, nur der Regen pladderte hinein.
Das Innere des Hauses wirkte luftig und hell - altweiß gestrichene Wände, weicher blassgrüner Teppichboden, exotische Teppiche in kühlen Farben, moderne Gemälde von Seelandschaften und Fischen, die aussahen, als wären es Originale, solide Möbel aus schwerem, dunklem Holz und nicht das kleinste bisschen Unordnung. Stattdessen herrschte ein Flair von Weite, Schlichtheit und Ruhe. Nirgendwo spürte ich Andrews Präsenz. Das Ambiente strahlte kunstvolle Ordnung und Balance aus. Man konnte sich kaum vorstellen, dass jemand sich gerade erst so gewaltsam das Leben unter diesem Dach genommen hatte.
»Ich habe dich in unserem Zimmer untergebracht. Ich hoffe, es macht dir nichts aus. Im Moment schaffe ich es einfach nicht, dort zu schlafen. Es hat ein eigenes Badezimmer und einen wunderbaren Blick«, setzte sie entschuldigend hinzu.
»Fein«, log ich, obgleich ich allein bei der Vorstellung eine Gänsehaut bekam.
Auf dem Treppenabsatz beobachtete ich, wie ihr Blick unwillkürlich an der Treppe zum Dachboden hängen blieb und dann, bei der Erinnerung, hastig abschweifte.
Sie kochte uns eine Kanne Tee, mit der wir uns in die Gartenlaube setzten. Dort erzählte sie mir zwischen duftenden Beeten mit Minze und Thymian, wie sie beide die Farm renoviert hatten, ein Zimmer nach dem anderen, so wie sie gerade Geld hatten, bis hinauf zum Dachboden, der erst in diesem Jahr fertig gestellt worden war. Im Hof hatten sie die alten Ziegelsteine und
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