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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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ist nur eine Fotokopie«, erklärte sie, während ich es anstarrte. »Die Polizei hat das Original mitgenommen, aber ich werde es zurückbekommen. Nicht, dass ich es brauchen würde, ich kenne es auswendig.«
    »Bist du sicher?« Als sie mir das Blatt reichte, wusste ich, dass ich es nicht lesen wollte. Wie aufs Stichwort knurrte in diesem Moment mein Magen und zerriss die düstere Stimmung. Ich blickte auf ihn hinab wie auf ein schlecht erzogenes Haustier. »Lieber Himmel, entschuldige bitte.«
    Sie sah auf die Uhr. »Hast du denn nichts gegessen? Ich habe nicht daran gedacht …«
    »Der Speisewagen war schon vor Plymouth leer gekauft«, sagte ich, erleichtert, das Thema wechseln zu können. »Am Ende habe ich einen in der Mikrowelle aufgewärmten Hamburger bestellt, aber als ich ihn feucht und verschrumpelt aus der Verpackung gewickelt hatte, ist mir einfach der Appetit vergangen.«
    Alison verzog das Gesicht. »Klingt ekelhaft.« Sie dachte einen Augenblick nach und setzte dann vollkommen ernst hinzu: »Erinnert mich an diverse Männer, die ich gekannt habe. Na, wenigstens war er nicht behaart.«
    Ich starrte sie an, und dann prusteten wir beide los und hörten zehn Minuten nicht mehr auf zu lachen. Der Humor löste die gewaltige Anspannung und ließ die Welt wieder etwas rosiger erscheinen.

    Trotzdem fühlte ich mich mulmig, als es Zeit zum Schlafengehen war. Hauchdünn, federleicht und doch wie ein Bleigewicht lag der Brief in meiner Tasche. Ich löschte alle Lichter im Schlafzimmer, streckte mich auf dem Bett aus und starrte an die Decke. Ist der Dachbalken, an dem Andrew sich erhängt hatte, jetzt genau über mir?, fragte ich mich und musste den Gedanken mit Gewalt aus meinem Kopf verdrängen.
    Ich stand auf, ließ Badewasser ein und legte mich mit einem Buch, das ich bei Smith‘s am Bahnhof Paddington gekauft hatte, in die Wanne. Nach drei Seiten hatte ich genug.
    Tropfnass stand ich wieder auf, wickelte mich in ein Badetuch und setzte mich aufs Bett. Andrews Brief lag zusammengefaltet da: ein stummer Vorwurf. Behutsam faltete ich ihn auseinander und strich das Blatt glatt. Andrews Handschrift war klein und sauber und wirkte ziemlich altmodisch, anders, als ich erwartet hätte.
    Liebe Alison , begann er, formell, formelhaft.
    mein Tod wird, das weiß ich, ein schrecklicher Schock für Dich sein, obwohl Du selbst mit dafür verantwortlich bist, dass ich an diesem Punkt angelangt bin, von dem es kein Zurück mehr gibt. Ich kann nicht mehr. Dieses Haus hat mir alles genommen, vor allem den Lebenswillen. Als Du heute wieder von Kindern gesprochen hast, war mir klar, dass ich dazu nicht mehr im Stande bin. Wozu sich vormachen, dass es eine Zukunft gibt - für mich, geschweige denn für ein Kind von mir? Die Geschichte wiederholt sich ein ums andere Mal. Es gibt nichts, was wir tun können, um unser Schicksal zu verändern, und es ist Wahnsinn, zu glauben, wir könnten unser Leben selbst bestimmen. Es tut mir leid, dass unsere Ehe ein Irrtum war. Es tut mir leid, dass ich so viel Schmerz verursacht habe. Vor allem aber tut es mir leid, dass ich nicht rechtzeitig erkannt habe, welchen Kurs mein Leben nahm, und diesen Weg allein gegangen bin, statt Dich mit in den Abgrund zu reißen. Wenigstens hast Du jetzt eine Chance,
dir eine neue Zukunft aufzubauen. Verkauf das Haus und zieh hier weg. Man erstickt an diesem Ort, er ist voll von Verzweiflung und Misserfolg. Geh weg von hier, solange Du noch kannst: Rette Dich. Geh zurück nach London, suche Dir jemand anderen, und belaste Dich nicht mit dem bleiernen Gewicht meines Lebens oder meines Todes.
     
    Geh, wenn nicht mit meiner Liebe, so doch wenigstens mit meinem Mitgefühl.
     
    Andrew
    Zwanzig Minuten verharrte ich mit dem fotokopierten Brief in der zitternden Hand auf dem Bett. Dann stand ich auf, trat ans Fenster und schaute über den Rasen auf das Meer. Dieses herrliche, lichterfüllte Haus, das Alison und er geschaffen hatten, mit seinem hübschen Garten und seinem weiten Blick gab mir nicht das Gefühl eines Gefängnisses oder eines Käfigs. Es war schlimm, in den Formulierungen oder den zum Ausdruck gebrachten Gefühlen Andrews Stimme zu hören, aber ich hatte ihn nie unter extremen Umständen erlebt, höchstens unter dem Einfluss von Alkohol oder Begierde, strotzend von guter Laune und Testosteron. Trotzdem berührte irgendetwas an seinen Worten einen Teil von mir, den ich nicht ganz fassen konnte.
    Über dem Haus funkelte eine schmale Mondsichel wie ein

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