Die Zehnte Gabe: Roman
flüchtiger Blick durch die Nacht in eine andere Welt. Eine Eule rief in den fernen Bäumen. Meine Mutter hatte immer behauptet, dass Eulen mit den Stimmen der Toten sprechen. Sie hatte im tief sitzenden Aberglauben ihrer langen kornischen Abstammung auf Holz geklopft (aber niemals mit den Füßen, aus Angst, dass einen das Glück verlassen könnte), und wenn sie Salz verschüttete, hatte sie eine Prise über die linke Schulter geworfen, um den Teufel abzuwehren, obwohl sie behauptete, nicht an ihn zu glauben. Sie glaubte fest daran, dass es einen
Übergangszustand zwischen Leben und Tod gibt und die Geister umherwandern, bis sie Frieden finden, und sie war überzeugt, dass manche Geister niemals Frieden finden.
Ich merkte, dass ich trotz der warmen Nacht fröstelte, dennoch hatte ich plötzlich den Drang, das Fenster aufzureißen, als müsste ich die Atmosphäre reinigen, um leichter atmen zu können - oder um Andrews Geist zu erlösen.
ACHT
E in paar Tage später erzählte ich Alison einige Geschichten aus meiner Zeit mit Michael, um sie von ihrem Elend abzulenken. Jetzt, nachdem der Adrenalinstoß des anfänglichen Schocks nachgelassen hatte, sie nicht länger durch die Vorbereitungen für die Beerdigung abgelenkt war und die praktischen Dinge geregelt waren, litt sie umso mehr.
Meine Affäre mit Michael hatte so etwas wie einen Keil zwischen Alison und mich getrieben, besonders als sie Andrews schändlichen Ehebruch hatte verkraften müssen. Sie hatte Michael nie gemocht, nicht einmal als Annas Ehemann. »Er hat etwas ausgesprochen Unzuverlässiges«, hatte sie einmal ganz zu Anfang ihrer Beziehung zu mir gesagt, wenn ich mich recht erinnere. Ich hatte mich mehr als ein Jahr nicht getraut, ihr von uns beiden zu erzählen, und als ich es schließlich tat, hatte sie den Mund verzogen und war plötzlich ganz still geworden. Am Ende hatte sie gesagt: »Eigentlich müsste ich Anna auf der Stelle anrufen. Ich müsste das Telefon nehmen und ihr erzählen, dass ihre beste Freundin ihren Mann bumst und sie am besten alle beide zum Mond schießt.«
Fast hatte ich gewollt, dass sie das tat, obwohl ich gewusst hatte, dass Anna wütend gewesen wäre und mich hassen würde. Aber ich hatte auch erkannt, dass sie Michael nicht so leicht ziehen lassen würde, egal, was er getan hatte, und dass er sie nie verlassen würde, jedenfalls nicht für mich. Zum Teil lag es an ihrem Geld, aber es ging tiefer als das und zwar auf eine Art, die ich lieber nicht näher untersuchen wollte.
Am Ende hatte Alison mir genau gesagt, was sie von mir hielt,
dann eine lange Pause gemacht und hinzugesetzt: »Wenn du je mit Andrew ins Bett gehst, bringe ich dich um.« Ganze dreißig Sekunden lang war es ihr gelungen, ein ernstes Gesicht zu behalten. Trotzdem war mir klar gewesen, dass sie es irgendwie auch ernst meinte.
Seitdem hatten wir unser Bestes getan, um unsere Freundschaft zu kitten, doch das Gespenst der Untreue stand immer zwischen uns. Ich war tief berührt, dass Alison sich in der Tiefe ihres Unglücks an mich gewandt hatte, sodass ich jetzt, als klägliche Form von Wiedergutmachung, all die lustigen Geschichten ausbreitete, die mir einfielen - zum Beispiel wie mich Michael bei einem unserer ersten Rendezvous in ein elegantes chinesisches Restaurant eingeladen und ich verzweifelt versucht hatte, einen guten Eindruck zu machen. Als ich die kochend heiße Nudelsuppe schlürfte, war mir ein Teil der Flüssigkeit über das Kinn gelaufen und hatte meine Haut verbrüht, die prompt anfing, höchst unattraktive Blasen zu werfen. Wie wir es in einem Wald voller Glockenblumen miteinander getrieben hatten und er splitternackt eine halbe Meile weit gerannt war, um einen Ohrenkneifer loszuwerden, der ihm ins Haar gekrabbelt war. Oder wie Anna eines Tages bei mir in der Wohnung aufgetaucht war und Michael sich vier Stunden im Gartenschuppen die Eier abgefroren hatte.
Ich schwelgte in Erinnerungen, die oftmals doch eher angsterfüllte, emotional unbefriedigende Erfahrungen gewesen waren. Es war bereits eine Erleichterung, überhaupt darüber zu reden, ganz zu schweigen davon, jemanden damit unterhalten zu können. Ich grub immer fürchterlichere Anekdoten aus, die häufig auf meine eigenen Kosten gingen, und bald hörte Alison gar nicht mehr auf zu kichern.
Am Ende hielt ich inne und betrachtete all die Kerben und Flecken, die die Oberfläche des alten Tisches zierten. Bei seiner Herstellung musste es eine glatte Holzfläche gewesen sein,
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