Die Zehnte Gabe: Roman
hätte, die Leiche anzurühren. Ich versuchte, nicht hinzuschauen, doch immer wieder kehrte mein Blick dorthin zurück. Es war hellblau, aus irgendeiner Kunstfaser, Nylon oder Polypropylen, und wirkte
rau. Bestimmt war es schwierig, einen ordentlichen Knoten damit zu machen. Ich fragte mich, wo Andrew gelernt hatte, wie man Knoten knüpft, und ob er ungeschickt herumgefummelt hatte, als er ihn straff zog. Ich stellte mir vor, wie die grobe Faser in die zarte Haut des Halses schnitt, und musste den Gedanken mit Gewalt verdrängen.
»Siehst du die Kisten?«, rief Alison von unten. Ihre Stimme klang gekünstelt fröhlich. »Sie müssten neben dem großen Schubladenschrank stehen.«
Der zumindest war kaum zu übersehen: ein alter Architektenschrank beherrschte das schmale Ende des Raums unter dem Giebel, und daneben waren drei Kisten aufeinandergestapelt. Die oberste hatte eine dicke Staubschicht; offensichtlich war sie lange nicht aufgemacht worden.
Ich nahm sie herunter und öffnete sie. Andrews Gesicht starrte mich daraus an, frisch und heiter, und plötzlich erfüllte seine Gegenwart den ganzen Raum. Ich ließ die Kiste fallen, und die Fotos landeten auf dem Boden. Alison und Andrew; Andrew und Alison, hundert, zweihundert Aufnahmen von den beiden, entweder zusammen oder einzeln, in Gruppen bei Hochzeiten, auf Booten im Urlaub, in Overalls, am Haus arbeitend: zwanzig Jahre bunte Fujicolor-Geschichte, vergraben in einer verstaubten alten Schachtel.
»Sorry!«, rief ich nach unten. »Mir ist nur was runtergefallen.«
Ich sammelte die Fotos ein und stopfte sie zurück in die Schachtel, wobei ich den Blick von diesen Ansichten einer anderen, besseren Welt abwandte. Die zweite Kiste enthielt alte Notizbücher und Tagebücher, ein verblasstes Gästebuch, aber nichts, was nach Familienbibel aussah. Blieb nur noch die letzte Kiste. Ich stemmte sie auf. Unter einem Bündel vergilbter Zeitungen lag ein muffig riechendes Ding. Ich kramte es heraus. Sein lederner Einband fühlte sich feucht an und stank nach Schimmel, obwohl sowohl die alte Kiste als auch der Dachboden
einen trockenen und wetterfesten Eindruck machten. Es war, als brächte es sein eigenes Klima mit.
»Ich hab sie!«, rief ich nach unten. Als ich den Einband hochhob, fiel etwas aus dem hinteren Teil heraus, und mehrere fleckige, braungeränderte Seiten lösten sich. Einen Augenblick dachte ich, das ganze Ding würde zerfallen, dann merkte ich, dass die Blätter lose waren: alte Lettern auf den ersten Blick. Ich legte sie sorgfältig wieder in den Einband zurück und sah mich ein letztes Mal auf diesem Dachboden um, wo Andrew Hoskin sich das Leben genommen hatte. Trotz des hellen Lichts, das durchs Fenster strömte, fühlte es sich stickig an hier drin, als würden nicht nur die Balken, Streben und Dachziegel auf mir lasten, sondern auch der Himmel, die Sterne und die Leere dahinter. Plötzlich spürte ich eine Welle von Verzweiflung. Ich war ein winziges, bedeutungsloses Stäubchen Leben in einem riesigen Universum. Was wollte ich eigentlich? Ich vertat meine Zeit, vertat mein Leben. Ich hatte hier nichts verloren, wahrscheinlich nirgends was verloren. Ich hatte keine Arbeit, keine Familie, keinen Mann, keine Kinder, keine Zukunft - und mit Sicherheit würde ich auch nichts davon in Cornwall finden. Außerdem war ich eine Frau und eine Ehebrecherin obendrein. Der Gedanke kam mir, klar wie ein Fanfarenstoß, dass ich sofort abreisen sollte, einfach weggehen.
Ich umklammerte die Bibel und flüchtete die Treppe hinunter, wobei ich schon ausrechnete, wie lange es dauern würde, zu packen, ein Taxi zu rufen und zum Bahnhof von Penzance zu fahren.
»Was ist denn los, um Gottes willen?« Alison war hohläugig und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie sah aus wie eine Fremde, wie ein Eindringling in ihrem eigenen Haus. Ich wollte nur noch an ihr vorbei und raus.
Ich streckte eine Hand aus, um sie beiseitezuschieben. »Ich -« Und dann war das Gefühl plötzlich weg. Ich blinzelte.
Sie nahm mir die Bibel ab. Wahrscheinlich glaubte sie, ich
wäre zu wacklig, um sie zu tragen. »Komm, wir gehen nach unten«, sagte sie fest und klemmte sich den Einband unter den Arm. Den anderen legte sie um mich. »Du siehst aus, als könntest du eine starke Tasse Tee gebrauchen.«
Und so hatte sie sich vom Opfer in eine Betreuerin verwandelt, und jetzt war ich diejenige, um die man sich kümmern musste. Vielleicht, dachte ich, als ich ihr in die Küche folgte, war es genau
Weitere Kostenlose Bücher