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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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was war das für eine lange Reise, die sie ihr verheißen hatte und die mit der Vereinigung von Himmel und Erde enden sollte? Diese Frage quälte sie am meisten.
    Möglicherweise würde sie schließlich doch nach London ziehen, um in einem großen Haus zu leben und in der Gesellschaft aufzusteigen, und wer wusste schon, wie dann die Zukunft aussähe? Obwohl sie bei der Erinnerung daran, wie Sir John Killigrew sie berührt hatte, von Scham und Ekel ergriffen wurde, bewies es letztlich, dass große Männer sie hübsch genug fanden, um sie zu küssen. Und vielleicht hatte die Ægypterin ja auch ganz falsch gelegen, als sie prophezeite, dass Cat nie heiraten würde. Immerhin hatte sie gesagt, dass sie »als Catherine in dieser Welt« nie heiraten werde. Vielleicht erwartete sie irgendwo eine andere Welt, beispielsweise, wenn die Countess of Salisbury sie mitnahm, um sie zu ihrer Privatstickerin und Kammerzofe zu machen. Vielleicht würde diese feine Dame einen anderen Namen für sie finden.

    Dieser Gedanke brachte sie auf das Altartuch, denn bei einem solch großen Vorhaben konnte man doch sicher von Beharrlichkeit sprechen, oder nicht? Beflügelt von dieser Überzeugung, zog sie ihren Entwurf unter dem Bett hervor und entrollte ihn vorsichtig.
    Der Baum der Erkenntnis wuchs im Kerzenschein vor ihr in die Höhe, kunstvoll und elegant. Vögel sangen in seinen Zweigen, Blumen aller Art standen in leuchtender Blüte, kleine Geschöpfe spielten zu seinen Füßen. Mann und Frau standen rechts und links des Stamms, die Bäuche diskret dem Holz zugewandt. Evas Hand umschloss die Frucht, die Wissen und Verdammnis verhieß.
    Cat betrachtete lange und aufmerksam ihren Entwurf, und je eindringlicher sie ihn betrachtete, desto sicherer war sie, dass er den Schlüssel zu dem ganzen Durcheinander in ihrem Kopf enthielt. Sie folgte den feinen Konturen und strich über das raue Leinen, als könnte es irgendwie sprechen.
    »Eine lange Reise«, flüsterte sie vor sich hin. »Eine Vereinigung von Himmel und Erde.«
    Und plötzlich war das Rätsel gelöst, die Antwort lag vor ihr. Das Holz des Lebens, dessen Wurzeln tief in der Erde waren und dessen Äste sich zum Himmel reckten, vereinigte die Welt des Profanen mit der des Heiligen in einem einzigen herrlichen Symbol. Das reichte ihr. Sie hatte das Zeichen gefunden: Ihr Schicksal war klar.
    Morgen, nach der Kirche, würde sie ihren freien Nachmittag der Arbeit an dem Altartuch widmen, das sie retten, auf eine lange Reise schicken und ihr ein schönes neues Leben schenken würde, weit weg von Kenegie, weit weg von Rob, weit weg von Cornwall, so wie sie es sich immer erträumt hatte.

ZEHN
    E in paar Tage später saß ich mit Alison im Garten, als mein Handy klingelte. Wir waren gerade von der Kanzlei des Anwalts in Truro zurückgekommen, der sich um Andrews Testamentsvollstreckung kümmern sollte. Auf der A30 hatte ein Unfall einen gewaltigen Verkehrsstau verursacht. In Truro einen Parkplatz zu finden, war beinahe unmöglich gewesen, die Sekretärin hatte ein wichtiges Formular verschlampt, das von Alison unterschrieben werden sollte, und nun waren wir beide müde und ein wenig angespannt. In den Leinenpolstern des Gartenstuhls zu versinken, mit einer neuen Stickerei auf dem Schoß - einem schlichten Schal mit Pfauenfedern in den vier Ecken -, bei der ich eine Kombination aus Plattstich und Kettenstich ausprobieren wollte, ein Glas eisgekühlten Chenin Blanc neben mir, und dem Gesang der Lerchen zuzuhören, war einfach herrlich. Der durchdringende, mehrstimmige Klingelton kam mir wie eine unwillkommene Störung vor. Doch wie unwillkommen tatsächlich, konnte ich nicht ahnen.
    »Hallo?«
    Dummerweise hatte ich nicht auf das Display gesehen, bevor ich abnahm. Michaels Stimme erwischte mich eiskalt.
    »Ah, du lebst also noch?« Es klang leicht enttäuscht. »Ich habe dir mehrere Nachrichten hinterlassen, aber du hast nie zurückgerufen«, warf er mir vor.
    Ich antwortete nicht.
    »Wo bist du?«, bohrte er.
    »In Cornwall, bei meiner Cousine Alison, obwohl dich das überhaupt nichts angeht.«

    Es folgte eine Pause, als hielte jemand am anderen Ende der Leitung die Luft an. Er war es nicht gewöhnt, mich resolut und selbstständig zu erleben, wenn nicht gar ausgesprochen unhöflich. Dann lachte er. Es war, so dachte ich, ein ziemlich nervöses Lachen. »Verrückt. Ich nämlich auch. Auch in Cornwall, meine ich.«
    Alison griff über den Tisch und nahm mir das Handy ab. »Hallo, Michael. Ja,

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