Die Zehnte Gabe: Roman
Stirn gestrichen hatte.
»Es ist nicht leicht, dich zu vergessen, Julia, egal, was du glaubst. Es war in den vergangenen Wochen auch für mich nicht einfach.«
»Gut. Und jetzt geh.«
An diesem Abend blieb ich in meinem Zimmer und versenkte mich in Catherines Buch. Mitternacht verstrich, der Mond ging auf, die Sterne zogen ihre Kreise, aber ich sah sie nicht. Um zwei Uhr nachts rief die Eule im Wald, und ich las immer noch, denn die Notizen am Rand hatten sich plötzlich vom Tagebuch einer Stickerin in ein erschütterndes historisches Rätsel verwandelt.
ELF
CATHERINE
Sonntag, 20. Juli
Dies schreibe ich nieder, ohne zu wissen, wo ich bin, in Dunkelheit & Angst um mein Leben, nein, meine Seele gar. Es ist fünf Tage her, daß sie uns überfielen, fünf Tage & Nächte voller Grauen. Ich wurde Zeuge von Dingen, die keine Frau auf Erden sehen sollte, ertrug Erniedrigung & Todesangst, die keinem Christenmenschen zugemutet werden dürfen & wo das alles enden soll, wenn nicht in Seelenqual und Tod, wüsst ich nicht zu sagen. Ringsum nur Elend & Leid, Gestank & Brutalität. Vielleicht sind wir schon alle tot & schmoren im Fegefeuer. Aber gewißlich kann die Hölle selbst nicht schlimmer sein als dieses entsetzliche Los, das uns beschieden ist. Möge der Herr sich meiner & meiner Leidensgenossen erbarmen, uns retten vor diesem unmenschlichen Geschick, doch ich fürchte, daß er sein Gesicht von uns abgewendet hat & nicht achtet unser Geschrei …
C at … Catherine!« Sie fuhr herum und sah ihren Vetter Robert im Gang stehen. Er trug seinen besten Sonntagsstaat und machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. In seinen blauen Augen lag ein flehender Ausdruck. Seit der Verkündung ihres Schicksals durch Sir Arthur vor zwei Wochen hatte sie kaum ein Wort mit ihm gesprochen.
»Was willst du?«
»Ich bin hier, um dich in die Stadt zu bringen. Matty hat gesagt, dass ihr beide nach Penzance wollt, um euch den neuen Prediger anzuhören. Ich dachte, ich fahre euch hin. Außerdem liegt dichter Nebel über der Bucht, und du willst doch bestimmt nicht nass werden …«
Cat hob energisch das Kinn. »Wir können zu Fuß gehen, danke vielmals, es sind allerhöchstens zwei Meilen.« Bedauernd blickte sie auf ihre besten Strümpfe, die mit den feinen Mustern an den Knöcheln. Sie hatte sie selbst bestickt, und die Vorstellung, dass sie nass, oder schlimmer noch, schmutzig werden könnten, war zum Verrücktwerden. Aber sich von Rob fahren lassen wollte sie auf keinen Fall.
In diesem Moment tauchte Matty auf. Als sie Robert Bolitho sah, flog ein breites, fröhliches Lächeln über ihr Gesicht. »Ich habe den Einspänner draußen gesehen, Rob. Kommst du mit in die Stadt? Es ist mächtig feucht draußen und so neblig, dass man nicht mal den Mount erkennen kann. Ich hatte sowieso keine Lust, zu Fuß zu gehen, obwohl Nell und William anscheinend schon weg sind.«
Cat seufzte. Nun konnte sie das Angebot nicht mehr ausschlagen. »Nell Chigwine will in die Kapelle? Wieso geht sie denn nicht mit den anderen drüben in Gulval zur Messe, so wie immer? Nur deshalb glaubte ich, dass das Treffen mit Mutter und Onkel Ned heute etwas erträglicher würde. Wenigstens müsste ich mir nicht gefallen lassen, dass Nell mich während der Predigt beobachtet. Sie wartet nur darauf, dass der Priester auf Evas Sünde anspielt, um ihr selbstgefälliges Gesicht aufzusetzen.«
Matty grinste. »Es ist eine Abwechslung, Cat. Außerdem, wenn ich mir heute eine von Mr. Veales endlosen Predigten anhören müsste, würde ich bestimmt einschlafen. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, so laut waren die Möwen auf dem Dach. Der Reverend sagt, Gott hat alle Geschöpfe in einer bestimmten Absicht erschaffen, aber wozu Möwen gut sein sollen,
ist mir schleierhaft. Gestern hab ich so lange ihren Dreck im Hof weggeschrubbt, bis meine Knöchel wundgescheuert waren. Blöde Mistviecher!«
Cat beugte sich zu ihr und sagte leise: »Es heißt, ihre Schreie seien die Stimmen der Verstorbenen, die noch nicht ganz ins Jenseits übergegangen sind.«
Matty fuhr zurück. »Und sie sind genau über meinem Zimmer!«, jammerte sie. »Ich kann hören, wie sie da oben herumspazieren.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Rob warf Cat einen wütenden Blick zu und legte dem fassungslosen Hausmädchen den Arm um die Schulter. »Komm, steig ein, Matty. Wenn wir zurückkommen, sehe ich mal nach, was ich tun kann, um die Nester auf dem Dach wegzumachen,
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