Die Zehnte Gabe: Roman
vom selben Stand sind, denn wir sehen aus wie arme Vagabunden oder Bettler und sind zusammengepfercht wie Schweine im Stall.
E s gab Tage, an denen Cat ihren Kopf bei jemandem anlehnen und sterben wollte, Tage, an denen sie den Gestank, die Gefangenschaft, die Schmerzen in den Eingeweiden oder den
schrecklichen, erstickenden Sumpf der Hoffnungslosigkeit, in dem die erbärmliche menschliche Fracht versank, nicht mehr ertrug. Anfänglich hatten die Gefangenen sich über ihre Behandlung empört und von Aufstand geredet. Sie wollten diejenigen, die ihnen zu essen brachten, überwältigen - sie in den Fäkalien ertränken, die ein zweites Meer innerhalb des Schiffes bildeten, ihnen die Schlüssel zu ihren Ketten stehlen, sich mit allem bewaffnen, was sie auftreiben konnten, und das Schiff stürmen. In ihrer Fantasie schmückten sie den Aufstand mit allerlei liebevollen Details aus: Wie sie den raïs ergriffen und ihm die Augen mit demselben Brandeisen ausstachen, mit dem er die Fußsohlen des Priesters gebrandmarkt hatte, wie sie ihn nackt auszogen und über Bord warfen, den Haien zum Fraß, und lachend zusahen, wenn ihm die Gliedmaßen ausgerissen wurden. Wie sie den abtrünnigen Engländer, der sich Ashab Ibrahim nannte, am Mast aufknüpften, nicht ohne ihm zuvor das Geschlecht abzuhacken, das er hatte beschneiden müssen, um Türke zu werden. Wie sie die übrige Mannschaft gefangen nahmen und in dem stinkenden Unterdeck einsperrten, bevor sie Kurs auf einen Heimathafen hielten und sie den Behörden übergaben, damit sie gegen die unglücklichen Engländer, die noch im Hafen von Salé gefangen gehalten wurden, ausgetauscht wurden.
Kapitän Goodridge erzählte, dass er einmal von einer erfolgreichen Gefangenen-Meuterei an Bord eines algerischen Schiffes gehört hatte. Irgendwie sei es ihnen gelungen, einen Europäer aus der Mannschaft zu bestechen, der sie loskettete und ihnen Waffen gab. Dann hatten sie den Kapitän des Sklavenschiffs getötet und waren auf dem schnellsten Weg nach Plymouth zurückgesegelt, wo sie mit allen Ehren empfangen worden waren und noch im Hafen ein Schwein geröstet hatten. Das hatten sie vor den muselmanischen Gefangenen auf und ab getragen und ihnen gedroht, sie mit dem Fleisch zu füttern, bis sie vor Abscheu wimmerten.
Insgeheim dachte Cat, dass der Kapitän diese Geschichte wahrscheinlich erfunden hatte, um ihnen und auch sich selbst Mut zu machen. Am Ende hatte es nicht funktioniert: Schon bei der Erwähnung von Schweinefleisch war vielen Gefangenen das Wasser im Mund zusammengelaufen, und sie hatten gestöhnt, denn sie waren erneut an ihren Hunger erinnert worden. Andere hatten sich übergeben müssen und noch mehr zu der stinkenden Brühe beigetragen, die ihnen bis zu den Knöcheln reichte.
Im Nu lösten sich ihre Träume von einer Meuterei in Luft auf: Einige Tage Strapazen, schlechtes Wetter, das ihnen schwer zu schaffen machte, und der unerwartete Tod des ersten Kindes, eines kleinen Jungen, den Fieber und Ruhr dahinrafften, genügten, um ihren Willen, so sie noch welchen gehabt hatten, zu brechen. Die Mutter des Jungen heulte über seiner winzigen Leiche, bis die Piraten herunterkamen und ihn mitnahmen. Dann kreischte sie hysterisch, sie würden ihn aufessen, und niemand konnte sie beruhigen oder sie vom Gegenteil überzeugen, weil sich niemand sicher war, ob sie es tun würden oder nicht. Das Echo ihrer Klage verfolgte sie Stunde um Stunde, Tag und Nacht.
Anschließend erkrankte einer nach dem anderen. Zwei weitere Kinder erlagen dem Fieber - ein Mädchen von drei und ein Junge von acht Jahren. Cat hatte den kleinen Jungen gekannt; er war an Feiertagen mit seiner Mutter zum Herrenhaus gekommen, und sie hatte im Garten mit ihm gespielt. Er litt tagelang, doch als er starb, stellte Cat fest, dass sie weder weinen noch beten konnte. Sie fragte sich, ob es daran läge, dass sie gefühllos geworden war oder ob sie einfach keine Tränen mehr produzieren konnte, weil sie nicht genügend Wasser bekamen. Was das Beten anging, so wusste sie mittlerweile, dass ihr Glaube sie verlassen hatte. Wie konnte ein Gott, der sich um seine Herde sorgte, zulassen, dass Kinder eines so entsetzlichen Todes starben?
Innerhalb einer Woche waren neunzehn an der Ruhr oder anderen Krankheiten gestorben: starke Männer, junge Männer,
kräftige Frauen, lebhafte Kinder, darunter Thom Samuels, dessen Wunde vereitert war, bis der ganze Arm schwarz wurde, Kapitän Goodridge, dessen Schiff sie im Ärmelkanal
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